“Wir sind bereit, mit allen zu kooperieren, die gegen ISIS sind”

31.08.2014 rusencakir.com
Übersetzt von: Gülçin Wilhelm /
Orjinal Metin (tr-26.08.2014)

Interview mit Cemil Bayik in voller Länge
“Wir sind bereit, mit allen zu kooperieren, die gegen ISIS sind”

Ich führte am 20. August 2014 mit Cemil Bayik, dem Co-Vorsitzenden der KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans), in der Region Kandil im Irak-Kurdistan ein Interview. Bei dem rund zweistündigen Gespräch war mein Kollege, der Fotoreporter Ilker Akgüngör, dabei. Auszüge aus dem Interview wurden bereits am 23. bzw. 24. August in der Zeitung “Vatan” veröffentlicht.

Es scheint hier eine neue Ära angebrochen zu sein. Im Irak wie auch in Syrien. Der Fall von Mossul markiert den Anfang des Prozesses. Ich beobachte zwei zunehmende Kräfte in der Region:  ISIS und die PKK. Und diese kämpfen gegeneinander. Trifft diese Feststellung zu?

Cemil Bayik: Auf den ersten Blick, ja. Nur, hinter ISIS gibt es einige regionale wie globale Kräfte. Ohne die Unterstützung dieser Kräfte wäre es ISIS nicht gelungen, so zu kämpfen, zu wachsen und zu erstarken, wie es derzeit den Anschein hat. Augenscheinlich kämpfen wir gegen ISIS aber das ist bloß der sichtbare Aspekt. Im Hintergrund passiert etwas anderes. Da gibt es durchaus Mächte, die ISIS auf uns loslassen.

Was bezwecken eigentlich diese Mächte?

Bayık: Verschiedenes. Es wäre unsinnig, hierzu von einer einzigen Intention zu reden. ISIS ist eine kleine Organisation gewesen, sie ist freilich sehr schnell gewachsen. Hätte sie nicht die Unterstützung von internationalen wie regionalen Mächten genossen, hätte sie niemals diese Stärke erreicht. Weshalb wurde sie also verstärkt und was wird hiermit bezweckt? Diesen Fragen müssen wir eine besondere Aufmerksamkeit schenken. Wir meinen, dass was im Nahen Osten gegenwärtig wütet, ist der 3. Weltkrieg. Möglicherweise wird es anderweitig nicht so gesehen aber wir bezeichnen es so. Die bisherigen Interventionen des kapitalistisch-modernistischen Systems haben nichts bewirkt. Weder in Libyen, in Syrien, im Irak noch in Ägypten. Diese Übergriffe, die in unterschiedlicher Art und Weise vonstatten gingen, haben nicht nur nichts bewirkt sondern führten nur dazu, dass sich die Krise im Nahen Osten vertiefte. Die Atmosphäre des Chaos bestärkte die Absicht des kapitalistisch-modernistischen Systems, im Nahen Osten den Ton anzugeben; dies gelang nicht. Die Krise intensivierte sich und löste andere Krisen aus. Überfordert von diesem Schneeballeffekt suchte das System andere Machtpositionen zu erlangen. Und dies bildete die Basis für die Stärkung von ISIS. Wenn die Krise nicht zu bewältigen ist und sie unterschiedlichste Kräfte entstehen lässt, so warum nicht ISIS verstärken, um mittels dieser Organisation die Krise zu beherrschen? Über ISIS provoziert man Konfessionskriege, die äußerst gefährlich sind. Diese Konfessionskriege zerstören die Bruderschaft sowie die Einheit zwischen den Völkern und führt zu Verfeindungen unter diesen und somit zu Spaltungen. Sie zerstören die Geschichten und Kulturen von Völkern und zugleich den Boden, aus dem die Demokratie und Freiheit sprießen sollten. Sind die Völker auf diese Weise geschwächt, so ensteht der Bedarf nach einem Retter und hier kommt das kapitalistisch-modernistische System auf den Plan. Es versucht, auf diese Weise den Nahen Osten wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Stabilität, die mit seinem Charakter in Widerspruch steht, ist niemals von ihm erwünscht. Die Region sollte mit der Krise beherrscht werden. Aber die Krise im Nahen Osten ist nicht mehr zu beherrschen. Denn das Staatssystem ist schon zusammengebrochen. Dieses war seinerzeit im Nahen Osten entstanden, und jetzt bricht es ebendort zusammen. Jegliches Bestreben, im stürzenden System die Krise zu beherrschen, ist zum Scheitern verurteilt. Da die Lösung nicht innerhalb eines stürzenden System erfolgen kann, muss sie nun woanders gefunden werden.

Vor dem Hintergrund des Falls Mossuls vermutete man die Dreiteilung des Irak. War das auch eine feste Absicht von dem besagten Projekt?

Bayık: Es geht nicht nur darum, den Irak zu teilen sondern auch Syrien, den Iran und – sollte sie ihre Haltung nicht ändern – auch die Türkei. Und hinter der Verstärkung von ISIS liegt die Absicht, diese Teilung zu verwirklichen. Um alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen und die Kontrolle zu übernehmen, bedarf es nach einer Organisation wie ISIS. Durch diese entfesselt man Konfessionskriege, durch diese richtet man alles zugrunde, durch diese schwächt man die Völker. Durch die Teilung werden Hindernisse aus dem Weg geräumt. Man bezweckt zugleich, die Rojava-Revolution in Syrien einzudämmen. Allen diesen Plänen dient ISIS. Einen weiteren Aspekt möchte ich hervorheben: ISIS agiert im Namen des Islam. Mit dem Islam hat sie jedoch nichts gemein. Die Organisation gibt zwar vor, sich auf die islamische Geschichte oder die islamische Ideologie zu berufen, weshalb sie - überwiegend aus den sunnitischen Kreisen – immer mehr Anhänger findet, aber ihre Handlungen sind gegen die Menschlichkeit. Sie richten sich gegen die Völker, Kulturen, Religionen sowie auch Konfessionen. Dies zeugt zudem vom Bestreben des kapitalistisch-modernistischen Systems, dass mithilfe des ISIS das Verhältnis der Völker zum Islam nachhaltig beeinträchtigt wird. Das besagte System ist darauf bedacht, auf dieser Basis im Nahen Osten das Ruder wieder ganz an sich zu reissen. Denn die islamische Kultur bzw Traditionen sind sehr stark. Stark sind ebenfalls die demokratischen sowie die gesellschaftlichen Werte. Das kapitalist-modernistische System greift im Grunde genommen diese Werte an. Und das geschieht mithilfe von ISIS. Den Widerstand der islamischen Kultur, Geschichte und Tradition gegen das kapitalist-modernistische System will man mithilfe von ISIS zu brechen. Andererseits ist es ja ein Fakt, dass bezüglich der Handlungen von ISIS alle beunruhigt sind und diese von allen verurteilt werden. Islamische Kreise inbegriffen.

Furcht darf man auch nicht unterschätzen.

Bayık: Mitunter zieht man Parallelen zu den Mongolen. Anstatt dieser Vergleiche müsste man jedoch vielmehr das eigentliche Wesen von ISIS vor Augen führen. Diese Organisation ist in psychologischer Kriegsführung bewandert, sie kennt die Machtverhältnisse sehr gut. Durch das vermeintliche Geschichtsbewußtsein, die vermeintliche Wertschätzung der islamischen Kultur und die Art und Weise wie sie die Gesellschaft anspricht, findet sie bisweilen Zuspruch. Gewisse Rückschläge gibt es auch. Das kapitalist-modernististische System möchte einige seiner Ziele mithilfe von ISIS erreichen. Und ISIS verdankt ihr Wachstum solchen Bestrebungen. Meiner Ansicht nach ist ihrem Wachstum im Irak allerdings bereits Grenzen gesetzt. Die Organisation kann sich nicht mehr weiter entwickeln. Es ist sogar in Kürze mit einer Stagnation zu rechnen. Aufgrund der ISIS wurde der Irak dreigeteilt. Die USA haben das Sagen. Möglicherweise sehen sie eine konföderative Lösung vor. Es ist aber fraglich, ob das etwas bringt.

Sie meinen mit dreigeteilt: im Süden schittische Araber, in der Mitte sunnitische Araber und im Norden die Kurden. Die sunnitischen Araber werden de facto von ISIS regiert. Wird dieser Zustand weiterhin tragbar sein? Können Kurden oder die schiitischen Araber mit einem sunnitischen Staat leben, der auf der Basis von ISIS-Mentalität gegründet wird?

Bayık: Das glaube ich nicht. Derzeit wird ISIS von kapitalist-modernististischen Mächten genutzt. Das wird auch eine Weile dauern, denn ihre Mission scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Ich bin der Meinung, dass ISIS erst danach unwirksam gemacht werden wird. Wird dies denn einfach gelingen? Nein, ISIS hat bereits an Boden gewonnen. Man wird aber mindestens dafür sorgen, dass sie an Bedeutung verliert. In der sunnitischen Zone werden möglicherweise Baath-Anhänger auf den Plan gerufen, damit von diesen dann ein sunnitischer Staat oder eine andere sunnitische Einheit zuwege gebracht wird. Und das wäre auch keineswegs abwegig. Baath-Anhänger machen sich derzeit gezielt die Macht von ISIS zunutze. Denn diese haben schon der Gesellschaft Angst und Schrecken eingejagt. Umgekehrt macht sich ISIS die Baath-Anhänger oder andere Kräfte zunutze. Allgemein ist das gegenseitige Ausnutzen sehr ausgeprägt. Gegenwärtig ist es allerdings schwer zu erraten, wer bis zu welchem Maße den anderen ausnutzt oder wer am Ende einflußreicher werden wird.

Ein Blick auf die Geschichte von Al Qaida zeigt uns, dass jene, die ziemlich davon überzeugt gewesen waren, sich Al Qaida zunutze gemacht zu haben, selber von dieser genutzt worden sind. Beispiele wie Afghanisten oder Pakistan liegen auf der Hand. Die Organisation hat zwar den USA den schwersten Schlag in der Geschichte des Landes versetzt aber sie selbst wurde seinerzeit mithilfe von CIA gegen die Sowjets genutzt. Letztlich scheiterte der Gedanke am Beispiel von Al Qaida, “die kleine schwache Organisation” erst auszunutzen, um sie gegebenenfalls wieder auszuschalten. 

Bayık: Das betrifft nicht nur Afghanistan und Al Qaida. In der Türkei machte man eine ähnliche Erfahrung mit Hisbollah. Oder im israelisch-palästinensichen Konflikt. Man hat in keinem dieser Fälle einen Erfolg erzielt. Welche Kräfte auch immer sie zu ihren eigenen Zwecken nutzen wollten, wurden eben diese für sie zum größten Problemfall. Das aktuellste Beispiel ist ISIS. Die Türkei gehört beispielsweise zu den Kreisen, die zum Erstarken von ISIS den größten Beitrag geleistet haben. ISIS-Anhänger sind u.a. von MIT (Nationaler Nachrichtendienst der Türkei)-Mitarbeitern gedrillt worden. Ihre strategische wie auch taktische Ausbildung erfolgte beim MIT. Es liegen diesbezüglich handfeste Informationen vor. Die Türkei hatte vor, mithilfe von ISIS die sunnitische Kampfront zu erweitern. Kraft dieser wollte sie eine entscheidende Machtposition im Nahen Osten innehaben, aber sie stolpert gegenwärtig eben über die Gruppierung, die sie einst übervorteilen wollte. Dies scheint im Moment die größte Gefahr für die Türkei zu sein. Man kann gespannt sein, ob das Land aus diesem Schlamassel raus kann. Hier handelt es sich um etwas, das immer und überall vorkommt: Derjenige, der als nützlicher Idiot behandelt wird, bereitet hinterter in der Regel ernsthaft Kopfzerbrechen. Das trifft jetzt auf ISIS zu.

Nun zu Ihrem Kampf. Ihre Verbündeten in Rojava kämpfen nicht nur gegen ISIS, sondern auch gegen Al Nusra – das hatte aber schon eine gewisse Routine erlangt. Anders als in Mossul war es ein langanhaltender und zugleich verhältnismäßig gleich ablaufender Kampf gewesen. Unmittelbar nach dem Fall Mossuls sowie dem Feldzug in Shingal und Mahmur sind Sie automatisch in Kampfhandlungen hineingezogen worden. Nach dem Fall Mossuls hatte sich Karayılan an die Regionalverwaltung in Erbil mit dem Ansinnen gewandt, für “einen gemeinsamen Kampf” eine Koordination zustande zu bringen. Dies fand keinen Widerhall. In einer Zeit, in der allgemein davon ausgegangen wurde, dass ISIS sich Bagdad vornehmen würde, haben Sie hingegen prophezeit, dass sie es auf Kurdistan abgesehen habe. Anschließend haben Sie mit Barzani eine Allianz eingegangen. Können Sie diesen Prozess etwas näher erläutern?

Bayık: Ein Blick auf die bisherigen Praktiken von ISIS zeigt uns, dass sie mit den Staaten keine ernsthaften Konflikte hatte. Im Gegenteil: Sie kämpft immer gegen die Kräfte, die jeweils die Opposition bilden. Am ausgeprägtesten ist der Kampf gegen uns. ISIS' Hauptziel ist die kurdische Bewegung. Und innerhalb derer die PKK. Denn die PKK ist die einzige Bewegung, die danach strebt, im Nahen Osten eine Alternative aufzubauen. Die PKK ist die einzige Kraft, die die Lösung nicht im Rahmen des bestehenden staatlichen Systems sucht, Alternativen entwirft, und dies tatsächlich in Rojava als Modell präsentiert hat. Die Angriffe der ISIS richten sich gegen die Rojava-Revolution und die PKK-Linie. Im Allgemeinen aber richtet sich ISIS gegen die Gesamtheit der Kurden. ISIS ist gewachsen, man ließ  sie wachsen. Zudem hat sie in Mossul das gesamte Waffenarsenal einer Armee und enorme Gedlbeträge bei den Banken erbeutet. Unmittelbar nach dem Fall Mossuls richteten wir – insbesondere - an Südkurdistan einen Appell mit den Worten: “ISIS wird sich bald gegen Kurden richten. Und damit nicht genug: Gegen die Kurden bahnt sich eine Bedrohung an. Dagegen sollten wir gemeinsam eine Verteidigung organisieren. Die Gefahr besteht nicht nur für Rojava. Sie ist genauso vorhanden für Bakur, im Grunde für alle Kurden. Deshalb sollten wir eine gemeinsame Verteidigungstruppe wie auch einen gemeinsamen Führungsstab auf die Beine stellen und diesen Angriff abwehren”. Die Führung im Süden überhörte diesen Appell. Dann passierte ein weiterer Angriff, der offenkundig auf Mahmur und Shingal abzielte. Das Ziel war es, diese Orte zu erobern, dort Massaker zu verüben und die Rojava-Revolution niederzuschlagen. Unser Appell wurde weder nach dem ersten Angriff auf Mossul noch nach diesem letzten Feldzug ernst genommen. Schon vor dem letzten Angriff hatten wir verkündet, dass die Gefahr immer größer wird. Wir sagten: “ISIS wird Südkurdistan angreifen, wir müssten rasch eine gemeinsame Verteidigung organisieren”. Wir wurden jedoch wieder ignoriert. Deshalb trafen wir eigenständig Maßnahmen. Hätten wir uns bei der Regierung im Südkurdistan, den dortigen Regierungs- wie auch Nichtregierungsparteien sowie anderen Organisationen Gehör verschafft, wäre ISIS bei dem letzten Angriff nicht so weit gekommen und hätte nicht so viel Schaden anrichten können. Da jene im Süden alles auf leichte Schulter nahmen, ist ihnen sehr viel Schaden zugefügt worden. Die PKK ist dabei verschont geblieben. Im Gegenteil: Das Ansehen von PKK in der Gesellschaft ist gewachsen. Nicht nur bei den Kurden, sondern bei einigen anderen Völkern und Religionsgemeinschaften. Denn sie hat in Shingal rechtzeitig eingegriffen. Sie hat dort für eine Evakuierung gesorgt, die eigentlich Aufgabe eines Staates wäre. Selbst dieser wäre damit überfordert. Es ist bemerkenswert, dass die PKK nicht nur die Kurden beschützt, sondern auch andere Völker, Religionen und Kulturen.  Die PKK, YPG (Volksverteidigungseinheiten), HPG (Volksverteidigungskräfte) und ähnliche Organisationen kämpfen gemeinsam gegen ISIS, während alle anderen vor ihr Reißaus nehmen. Mit der Folge, dass ISIS an vielen Orten den Rückzug antritt. Das ist die Realität. ISIS greift nicht nur die Kurden an, sondern Jesiden, Assyrer und Armenier sowie verschiedene Konfessionen des Islams. Sie greift jeden an, der anderer Auffassung ist, als sie. Sie vernichtet alles. Sie zerstört heilige Stätten. Die Vernichtung richtet sich nicht nur gegen heilige Stätten von Christen sondern auch von Muslimen. Sie vernichtet Kulturen und die Geschichte. Kann man sich was Gefährlicheres vorstellen als das? ISIS bedroht die Menschheit und hat nichts mit dem Islam gemein. Sie will, dass die Menschen entwurzelt und ihrer Geschichte beraubt, dastehen. Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung.

ISIS hält die ganze Welt in Atem. Man verfolgt alles in der Region. Auch Ihre Handlungen. Es sind Fotos von Barzani mit Ihren Kämpfern veröffentlicht. Die ausländische Presse debattiert über Sie. Es wird darüber diskutiert, ob Sie aus der Terrorliste gestrichen werden sollten oder nicht. Dient nicht alles schließlich dazu, dass Aversionen gegen die PKK abgebaut werden?

Bayık: Die Wirklichkeit einer Bewegung muss man sicherlich an ihren Taten messen. Der Ausspruch, der Mensch wird an seinen Handlungen gemessen, trifft auch auf die PKK zu. Man kann die PKK über ihre Praxis erfassen. Hätte ihre Intervention nicht rechtzeitig erfolgt, hätte man dem Feldzug von ISIS nicht Einhalt geboten, hätten wir da  mit Massakern rechnen müssen. Kein einziger Jeside hätte überlebt. Es wurde dagegen sofort eingegriffen. Man scheute sich nicht sogar vor bewaffneten Auseinandersetzungen in den Shingal-Bergen zurück. Während man dort versucht hat, die Flüchtlinge zu erreichen, mussten gleichzeitig die Angriffe von ISS abgewehrt, Menschen mit Lebensmittel versorgt, ein Korridor errichtet und durch diesen Leute nach Rojava transportiert werden. Das war eine große Leistung. Wie gesagt, eigentlich wäre es eine Staatsaufgabe gewesen, dies zu bewerkstelligen. Die dortigen Widerstandskräfte sowie die YPG-Kräfte, die sich dorthin begeben hatten, brachten einen gemeinsamen Führungsstab zustande und gaben ihr Bestes, um diese schwere Aufgabe zu bewältigen. Eins muss ich hervorheben: Hätte es diese Intervention nicht gegeben und hätte ein Massaker stattgefunden, hätte niemand das moralisch überstehen können - weder die Menschheit, noch die Kurden, noch die Erbil-Regierung, noch die KDP (Demokratische Partei Kurdistans). Denn dort dominiert die KDP. Diese vertrat zwar in Shingal die Regierung, sie war dort dennoch die dominierende Kraft. Keine Organisation hätte ein Massaker moralisch überstehen können. Sie hätten sich gegenüber der Geschichte schuldig gefühlt.

Man kann sagen, dass Sie die Leute gerettet haben.

Bayık: Das ist richtig. Genau genommen haben wir die Ehre der kurdischen Politik gerettet. Wir haben die Ehre der Erbil-Regierung und der KDP gerettet. Wir haben die Ehre der Menschheit gerettet. Man muss uns deshalb dankbar sein.

Die Bedingungen in Shingal und Mahmur bereiteten den Boden für eine Annäherung. Ihnen näherzukommen war vielleicht nicht unbedingt im Sinne der Erbil-Regierung aber Sie wurden quasi zur Führungsmacht aller kurdischen Kräfte. Was ist der nächste Schritt? Ist weiteres gemeinsames Handeln vorgesehen?

Bayık: Apo (Abdullah Öcalan) regt bekanntlich seit langem die Einberufung des Nationalen Kurdischen Kongresses an. Er fordert die Schaffung einer gemeinsamen Diplomatie und einer gemeinsamen Verteidigungsmacht ein. Es soll aus dieser auf längere Sicht eine Friedensmacht für Kurden hervorgehen. Die entsprechenden Bemühungen, die von ihm initiiert worden sind, sind zwar eine Zeitlang fortgesetzt worden, sind aber dennoch im Sand verlaufen. Die Voraussetzungen für die Einberung des nationalen Kongress sind nunmehr geschaffen. Die Voraussetzungen für die Errichtung einer gemeinsamen Verteidigungsmacht und einer gemeinsamen Diplomatie sind wieder günstig. Unsere Bemühungen wie Aufrufe lauten: Gegen ISIS möchten wir nicht alleine kämpfen. Wir möchten zusammen mit allen Kräften, die gegen ISIS sind, einen gemeinsamen Verteidigungskampf auf die Beine stellen. Und dies soll unter einen gemeinsamen Führungsstab erfolgen.

Schließen Sie da auch die regionalen Kräfte mit ein?

Bayık: Unsere Bereitschaft, mit allen diejenigen gemeinsam zu kämpfen, die gegen ISIS sind und ISIS für gefährlich halten, haben wir bereits angekündigt und wir stehen nach wie vor dazu. Auf keinen Fall möchten wir ISIS auf eigene Faust bekämpfen. Wir sind nicht willens, alle unsere Kräfte auf einem bestimmten Feld einzusetzen und sonst niemand da zuzulassen. Wir möchten die Interessen und die Errungenschaften des Volkes schützen. Die Gefahr, die von ISIS aus geht, richtet sich gegen alle. Nicht nur gegen uns oder gegen Südkurdistan, sondern gegen Jesiden, Araber und alle diejenigen, die zu demokratischen Werten stehen. Sie richtet sich ebenso gegen die wahren Muslime. Alle sind betroffen. Wir sind bereit, mit allen gemeinsam zu kämpfen, die unter ISIS leiden bzw gegen ISIS sind.

Was verlangen Sie dafür?

Bayık: Die alten Zustände sind in mancher Hinsicht bereits überholt. Man sollte nicht mehr darauf beharren. Keine Partei darf ihre eigenen Interessen vor die nationalen Interessen oder die Interessen des Volkes mehr setzen. Das bringt nichts. Jede Partei muss sowohl die Interessen von Kurden als auch die Interessen von Völkern verteidigen. Bei dem Kampf gegen ISIS soll die demokratische Nation die Basis sein. Dies ist unsere konkrete Forderung. Es ist nicht unsere Absicht, den Kampf auf eigene Faust zu führen. Die derzeitigen Voraussetzungen sind in unserem Sinne. Auf internationaler Ebene und in den Augen von Kurden und anderen Völkern ist unser Prestige gestiegen. Denn wir sind die einzigen, die Widerstand leisten. Die anderen haben sich nicht gewehrt, sie haben Reißaus genommen. Als einzige Kraft, die gegen ISIS Widerstand leistet, wurde uns Bewunderung und Sympathie zuteil. Zur Zeit ist es so, dass die Voraussetzungen für uns günstig sind, selbst unter dem eingeschränkten Blick unserer Parteiinteressen. Für uns sind aber die nationalen Interessen und die Interessen der Völker ebenso wichtig. Und wir erwarten von allen, dass sie diese  berücksichtigen. Das ist die einzige Einstellung, die zu der Bruderschaft von Völkern führt. Nur mit dieser Einstellung kann den Konfessionskriegen im Nahen Osten Einhalt geboten werden. Und nur dadurch würde schließlich der eigentliche Grund des Krieges deutlich werden: Der Krieg zwischen jenen, die sich für Freiheit und Demokratie einsetzen und denen, die dagegen sind. 

Es steht außer Frage, dass es ein großes Ungleichgewicht in der militärischen Ausrüstung der Kurden und ISIS gibt. Der Westen hat dies erkannt und sendet entsprechende Botschaften. Es ist von einer Waffenlieferung an Kurden die Rede. Sie sind auch ein Teil dieses Krieges. Man kann davon ausgehen, dass Sie die schweren Waffen ebenfalls in die Hände bekommen.

Bayık: Die Waffen werden in der Regel an diejenigen geliefert, die kämpfen. Wer kämpft gegen ISIS? Ich bestreite die Tatsache nicht, dass andere inzwischen ebenso gegen ISIS kämpfen. Unsere Bewegung trägt jedoch die größte Last dieses Krieges. Wenn Waffenlieferung, dann sollten diejenigen die erhalten, die dort tatsächlich Widerstand leisten. Würden die Waffen hingegen an jene geliefert, die kampflos geflohen sind, würde das ISIS in die Hände spielen. Es sind tatsächlich Kräfte vorhanden, die gegen ISIS kämpfen und an diese sollten Waffen geliefert werden. Vor diesem Hintergrund möchte ich eins unterstreichen: Das größte Kampfmittel ist der Mensch selber. Der Mensch selbst ist die größte Waffe. Gewinnt man den Menschen, gewinnt man alles. All die Waffen werden von Menschen hergestellt bzw benützt. Die irakische Armee in Mossul besaß schon Waffen aber die Armee leistete keinen Widerstand. Das heisst, dass hier der Mensch der entscheidende Faktor ist. Und der Mensch existiert mit seinen Überzeugungen, Zielen und Ansichten. Sind bei Menschen bzw Bewegungen Überzeugungen, Ziele und Ansichten stark genug, so vermögen sie die am meisten entwickelte Technik zu bezwingen. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen. Die YPG und HPG kämpfen zwar gegen ISIS, aber sie verfügen keineswegs über die Waffen, die ISIS besitzt. Sie schaffen es, sich mit ganz simplen Waffen zu wehren. Die Einstellung der Führung im Süden, dass sie nicht genügend Waffen besäßen und sie nicht in der Lage seien, ohne Waffenlieferung gegen ISIS zu kämpfen, halte ich für nicht richtig. Sie resultiert vielleicht von deren Organisationsform aber generell halte ich sie für falsch. Dem Süden stehen derzeit solche Waffen zur Verfügung, die mit denen von ISIS gleichwertig sind. Aber ISIS kämpft und jene vom Süden nicht. Es ist verkehrt, alles von der technischen Überlegenheit abhängig zu machen. ISIS bezieht ihre Stärke aus ihrer ideologischen Überzeugung/Demagogie. Zudem gibt es internationale wie auch regionale Mächte, die sie ständig unterstützen. Deshalb ist sie erfolgreich. Demgegenüber sind Peschmerga vollkommen unorganisiert. In letzter Zeit sind sie auf Autos, Geld, Geschäfte oder luxuriöse Häuser aus gewesen. Wer solchen Begierden nachhängt, ist nicht in der Lage, zu kämpfen. Das ist der Grund, warum Perschmerga gescheitert sind und es lag nicht an der technischen Unterlegenheit. Es ist ein Fakt, dass die Invasion des Kapitalismus im Südkurdistan ziemlich effektiv vonstatten ging. Er schadet da enorm, schwächt den Gemeinschaftssinn und fördert den Individualismus. Deshalb agieren die Peschmerga nicht so wie vorher, sie sind geschwächt. Das ist eine Folge des Kapitalismus. Die Menschen setzen ihre persönlichen Interessen nunmehr vor die gesellschaftlichen Werte. Deshalb sind die Peschmerga so, wie sie derzeit sind. Sie müssen möglichst rasch aus dieser Situation rauskommen. Sie genossen bislang keine ideologische bzw organisatorische Ausbildung. Und ihre militärische Ausbildung ist sehr mangelhaft. Das muss alles möglichst schnell nachgeholt werden. Erst danach können Peschmerga wieder zu einer Kraft werden, die sich wehren kann.

Ich habe kürzlich ein Video gesehen, in dem Sie in Kirkuk mit Begeisterung empfangen werden. Sie waren doch eingeladen worden, oder?

Bayık: Ja, von der Bevölkerung. Die Einladung von einem großen Teil der Bevölkerung lautete sinngemäß so: “Da die Peschmerga nicht in der Lage sind, uns zu schützen, müssen PKK-Guerilla dies tun. Wir vertrauen diesen. ISIS greift uns an. Die PKK muss ihre Kämpfer zu uns schicken, damit sie uns schützen”. Die Hilferufe kamen von Kirkuk bis Shingal. Wir konnten da nicht untätig bleiben. Wir sendeten dann Truppen. Dies erfolgte auf Bitten der Bevölkerung. Andernfalls hätten wir keine Kämpfer dorthin geschickt.

Diese Vorgänge haben allerdings das Zeug, die ganzen Machtverhältnisse hier auf den Kopf zu stellen ...

Bayık: Wir haben keinesfalls vor, die Situation auszunutzen. Die Kämpfer sendeten wir nur unter der Prämisse aus, dass das Volk geschützt, mit unseren Brüdern im Süden ein gemeinsamer Verteidigungskampf auf die Beine gestellt sowie der Süden und dessen Volk mitsamt seinen Werten und Errungenschaften geschützt werden. Hinter unserem Handeln steckt keinswegs die Absicht, die Machtverhältnisse zu ändern, oder die Situation auszunutzen. Wir haben unsere Prinzipien. Von der Gründung der PKK an lautet eins davon Transparenz. Nach außen wie auch nach innen. Wir betreiben unsere Politik mit Offenheit und berufen uns dabei auf das Volk.  Hätte das Volk dies nicht gewünscht, hätten wir uns nicht dorthin begeben. Und sollte das Volk es nicht mehr wünschen, dass wir dort bleiben, tun wir es auch nicht. Sie haben selber gesehen, wie da das Volk unsere Kämpfer empfing. Das konnte man in der Presse verfolgen. Meinen Sie, dass die Guerilla hingehen würde, wenn das Volk kein Vertrauen hegte und sie nicht angefordert hätte? Keinen einzigen Schritt würden die Kämpfer gehen. Das Volk hat volles Vertrauen. Mit der Anwesenheit der Guerilla hat sich im Süden die ganze Atmosphäre gewandelt. Sowohl beim Volk wie auch bei den Peschmerga entwickelt sich ein Widerstandsgeist, der vorher nicht vorhanden war. Nur eins hatten die Leute im Sinn: zu fliehen und Hab und Gut zu verlassen. Durch die Anwesenheit der Guerilla ist diese große Angst gewichen. Nun herrscht die Meinung, dass mithilfe der Guerilla durchaus gegen ISIS gekämpft werden kann. Und das ist für uns sehr erfreulich.

Der Westen beobachtet die Existenz von Frauen in Ihren Reihen mit Staunen und großem Interesse. Zumal dieser Krieg gegen ISIS, einer Organisation gilt, die genau die entgegengesetzte Einstellung hat, was Frauen angeht. In Ihren Reihen stehen Frauen sehr im Vordergrund. Dies ist im Irak-Kurdistan eigentlich nicht so üblich. Mir ist nicht bekannt, ob es da überhaupt weibliche Peschmerga gibt.

Bayık: Kaum. Wenn dann, sind sie in der Verwaltung oder den Militärbasen tätig. Ich glaube nicht, dass es welche an der Kampffront gibt.

Man trifft im Nahen Osten keine andere Organisation, in der Frauen dermaßen im Vordergrund sind und derlei Verantwortungen übernehmen.

Bayık: Der Meinung bin ich auch. Auch wenn sie in anderen Organisationen im Vordergrund wären, hätten sie niemals den hohen Stand, den man in der PKK erreicht hat. Für den PKK-Führer Apo zählen Geschichte und Gesellschaft an erster Stelle. Wer dies tut, muss auf die Wertschätzung der Frau ein besonderes Augenmerk legen. Denn die Frauen sind ein konstitutioneller Teil der Geschichte und der Gesellschaft. Die Frau als Leitgedanke zu nehmen, heißt Geschichte und Gesellschaft als Leitgedanke zu nehmen. Sklaventum und Herrschaften stützten sich immer auf Frauensklaverei. Sklaventum und jegliche Autoritäten sind dadurch hergestellt worden, dass die Frauen ihre Freiheit einbüßten. Wer die Fahne der Freiheit hoch trägt, muss die Freiheit der Frauen an die erste Stelle setzen. Der Freiheitsgrad, der Frauen zugestanden wird, zeigt an, wieweit die tatsächliche Freheit in der Gesellschaft gegeben ist. Der Freiheitsgrad für Frauen zeigt auch den Freiheitsgrad für Männer. Die Frauen werden im Nahen Osten ziemlich rückschrittlich gehalten. Jegliche Machtverhältnisse orientieren sich an Männern. Alle autoritäre Herrschaften basieren sich auf das Herrschaftsdenken von Männern. Die Freiheit der Frauen bildet die Basis für wahre Freiheit, Demokratie und Gleichheit. Genauso wie die europäische Renaissance das heutige gesellschaftliche Niveau über den Ausbau von Reformen erreichte, kann die Reform des Nahen Osten nur über die gewährte Freiheit für Frauen verwirklicht werden. Die Freiheit des Nahen Osten und eine demokratisch-freiheitliche Gesellschaft ist nur durch die Freiheit der Frauen möglich. Die ISIS steht Frauen feindlich gegenüber. ISIS-Milizen töten sie, verkaufen sie auf Sklavenmärkten. Dass Frauen im Kampf gegen ISIS an verschidenen Orten in Kurdistan an vorderster Front stehen, hat politische, moralische und humanistische Gründe. Die Frauen hegen einen gewaltigen Zorn gegen ISIS. Denn für ISIS sind Frauen eine Art Kriegstrophäen, sie sieht sie als Ware, die sie kauft und verkauft. Kann es etwas schliemmeres geben? Dagegen sollten viele Frauen kämpfen. Dass Frauen in der PKK an vorderster Front sind, hat durchaus positive Auswirkungen. Dass es in der PKK zahlreiche Frauen gibt, ändert die Einstellung in der Gesellschaft auf positive Weise. Die Gesellschaft wird dadurch demokratischer. Man muss gegen ISIS einen Demokratie- und Freiheitskampf führen.

Besir Atalay kündigte eine Roadmap an und teilte manche Einzelheiten mit. Öcalans Notizen liegen Ihnen ebenfalls vor. Es bilden sich neue Delegationen und ist davon die Rede, dass diese sich auf den Weg nach Kandil machen. Aber eins beobachtet man auch: Die meisten Erklärungen von Öcalan hierzu sind positiv, wobei Ihre eher skeptisch sind. Trifft diese Auslegung nicht zu oder liegt hier tatsächlich ein Problem vor?

Bayık: Sie interpretieren es schon richtig. Die Rolle von Öcalan unterscheidet sich von unserer. Weder können wir seine Rolle übernehmen, noch kann er unsere. Diese ergänzen sich nur. Manche behaupten, dass es zwischen Öcalan und der Organisation einige Probleme, Widersprüche oder gegensätzliche Meinungen bestehen. Und wieder andere sind der Meinung, dass dies nicht zuträfe und es sich nur um eine Arbeitsteilung handele. Richtig ist die Arbeitsteilung. Öcalan ist Volks- und Hauptverhandlungsführer zugleich. Aber unsere Position unterscheidet sich hiervon. Man darf die beiden Positionen nicht durcheinander bringen. Man darf sie weder gleichsetzen noch gegeneinander stellen. Möglicherweise werden sie von einigen bewusst gegeneinandergestellt. Richtig ist, dass unsere Rollen sich voneinander unterscheiden und diese sich ergänzen. Von Konflikten ist keineswegs die Rede. Die türkische Regierung redet von Lösung. Sie hat jedoch kein Recht dazu. Alle dürfen das Wort in den Mund nehmen. Aber nicht die Regierung. Denn sie führte unter dem Begriff “Lösung” einen psychologischen Krieg. Mit “Lösung” hat sie alle abgelenkt, hinters Licht geführt und erweckte bei allen eine Erwartungshaltung. Sie versuchte, ihre eigenen Ziele durchzusetzen. In Richtung Lösung hat sie keine ernsthaften Schritte gemacht. Sie strebte an, aus dem von uns vorgelegten Konzept möglichst viel Kapital zu schlagen. Ich kann behaupten, dass das Beste, was sie in diesem Prozess gemacht hat, war, dass sie einen psychologischen Krieg geführt hat. Sie hat in Richtung Lösung keine Schritte gemacht. Öcalan betreibt die Lösung mit  Entschiedenheit und mit klarem Blick auf eine gute politische Zukunft für alle Beteiligten. Der Lösungsprozess ist in erster Linie mit diesem Bestreben von Öcalan verbunden. Es liegt lediglich an diesen Bemühungen, dass überhaupt etwas erreicht wurde. Jetzt ist die Regierung dran. In der Schönfärberei ist sie gut, aber es sind keine Fortschritte zu verzeichnen. Sie erweckt eine Erwartungshaltung, doch die Praxis sieht ganz anders aus. Deshalb hat das, was sie diesbezüglich von sich gibt, keinen Wert – weder bei uns noch in der Gesellschaft. Am Anfang beachteten wir es, aber seitdem wir festgestellt haben, dass es nur beim psychologischen Krieg bleibt, ignorieren wir es.

Was halten Sie von den neuen juristischen Regelungen und damit zusammenhängender Roadmap und davon, dass neue Verhandlungsführer oder der Staatssekretär für öffentliche Sicherheit mit einbezogen wurden?

Bayık: Es wurde im Parlament ein Rahmengesetz beschlossen, doch die Frage ist: wie und zu welchem Zweck? Öcalan hat gesagt: “In der Art und Weise kann ich den Lösungsprozess nicht mehr lenken. Ich kann ihn nur wieder in Angriff nehmen, wenn sich die Bedingungen ändern. Solange der Rahmen des Prozesses nicht erweitert wird, bin ich nicht dabei”. Das sagte und forderte unsere Organisation auch und wir haben diesbezüglich durchaus Bemühungen vorzuweisen. Wir haben erklärt, dass wir, wenn  der Rahmen nicht neu festgelegt wird, unsere Haltung ändern würden. Es herrscht Krieg in Syrien und im Irak, und das wird gefährliche Folgen für die Türkei haben. Falls Öcalan sich zurückgezogen und die Organisation ihre Haltung geändert und gekämpft hätte, hätte das für die Türkei fatale Folgen gehabt. Wir hätten mit einer ähnlichen Situation wie in Syrien oder im Irak zu tun. Die Regierung wurde dessen gewahr, zumal ein Waffenstillstand dringend notwendig war. Denn Erdogan, der zum Staatspräsidenten gewählt werden wollte, konnte sich da keine bewaffnete Auseinandersetzungen leisten. Da diese seine Wahl gefährdet hätten, sah er sich gezwungen, dem Parlament diesen Gesetzentwurf vorzulegen. Und nicht weil die Regierung es unbedingt wollte. Es waren die Entwicklungen und der Kampf, die sie dazu bewogen. Deshalb setzte die Regierung dieses Gesetz durch. Und wie lautet es? Gesetz zur Beendigung des Terrorismus. Und nicht “zur Beendigung des Krieges” oder “zur Lösung des Kurdenkonflikts”. Sondern die Beendigung des Terrorismus. Das zeigt, dass die Regierungsmentalität sich nicht geändert hat. Am Titel des Gesetzes erkennt man schon die Absicht. Man behauptet seit langem, dass es in der Türkei keinen Kurdenkonflikt sondern eine Terrorismusproblematik gäbe. Es wurde immer wieder gesagt: “Einige Länder möchten durch die PKK der Türkei schaden, um die Entwicklung des Landes zu verhindern. Das heisst, dass die Türkei mit Terrorismus konfrontiert ist, ihn bekämpfen muss. Der Terrorismus ist eine Sicherheitsfrage. Und  ihn zu beenden erfolgt via Armee, Polizei und Geheimdienst”. So hat man dementsprechend geredet und gehandelt. Das Problem wurde nie als eine politische Grundsatzfrage angesehen, das aus der Forderung des Volkes nach natürlichen Rechten resultierte. So gesehen wurde die Lösung natürlich auch nicht politisch konzipiert. Das Ziel lautete ja die ganze Zeit nur: den Terrorismus beenden. Das Problem als eine politische Frage zu betrachten hätte eine politische Lösung bedingt. Das hätte wiederum die Erkenntnis mit sich gebracht, dass der Kampf richtig und berechtigt war. So hätte man dessen Führer als einen Volksführer akzeptieren müssen. Seit den Oslo-Beschlüssen stützt sich die Regierung bei allen ihren Handlungen auf den Geheimdienst, die Armee und die Polizei. Sie hat alles getan, um zu verhindern, dass die Verhandlungen einen politischen Charakter erhalten. Sie vermeidet Gespräche mit dem politischen Flügel.

Kann es sein, dass der von Ihnen erwünschte Prozess sich erst jetzt anbahnen könnte?

Bayık: Die Türkei wird sich – zwar widerwillig – mit dieser politischen Frage beschäftigen müssen. Das wird vollkommen unabhängig von ihrem Willen geschehen.

Mit “der Türkei” meinen Sie die Regierung.

Bayık: Sicherlich. Die Vorgänge zwingen sie dazu. Es gibt keinen anderen Ausweg. In der Türkei redet niemand mehr vom Terrorismus. Die PKK wird nicht mehr als eine terroristische Organisation angesehen. Jene, die das einst getan haben, fordern jetzt, dass die PKK aus der Terrorliste gestrichen wird. Es wird wird zum ersten Mal darüber debattiert. Die letzten Aktivitäten der PKK in Syrien und im Irak sind ebenfalls ein Beleg dafür, dass es für die Türkei nunmehr nicht mehr so einfach ist, die PKK als terroristisch hinzustellen. Dort beschützt sie die Völker, die Kulturen und die Konfessionen. Keiner wird die alten Unterstellungen und Verunglimpfungen mehr erst nehmen. Denn es geht in erster Linie um die Identität, Sprache und Kultur eines Volkes. Es geht um die Freiheit dieses Volkes. Die Türkei wird es als ein politisches Problem akzeptieren müssen.

Wird akzeptieren müssen, oder muss schon akzeptieren?

Bayık: Sie ist auf dem Weg dahin. Das kann sie nicht lange aussitzen. Andernfalls wird es sich zum Nachteil der Türkei auswirken und sie muss mit sehr ernsthaften Problemen rechnen.

Sie sagen: “Wir waren drauf und dran, unsere Haltung zu ändern und das gab der Regierung zu denken”. Andersherum gefragt: Sie sind gegenwärtig in Syrien und im Irak ziemlich präsent. Das hat mehr oder weniger damit zu tun, dass sie über die technischen Möglichkeiten verfügen, was Ihnen dadurch ermöglicht wurde, dass sie in der Türkei nicht kämpfen. Die internationale Wahrnehmnung verdanken Sie im Grunde auch dieser Tatsache. Meinen Sie, dass Ihre Taten in Rojava und im Irak Ihnen so eine Sympathiewelle eingebracht hätten, wenn Sie in der Türkei weiterhin gekämpft hätten?

Bayık: Wir hätten es trotzdem getan.

Schon klar. Aber wäre die Wahrnehmung der westlichen Öffentlichkeit genauso wie jetzt?

Bayık: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber das, was wir in Rojava und Shingal getan haben, hätten wir trotzdem gemacht. Wir sind nämlich dazu imstande. Uns stehen die ideologische Rüstung, und genügend Kampfkraft zur Verfügung. Das Volk ist auch hinter uns. Wir möchten die Probleme immer mit demokratischen, politischen Mitteln lösen. Wir haben bislang neunmal einen einseitigen Waffenstillstand verkündet. Wo gibt es denn so was? Insbesondere das letzte Mal war es mehr als ein Waffenstillstand. Wir sind Wege gegangen, die keine ähnliche Bewegung in der Welt gehen würde. Und das alles einseitig. Das manifestiert unser Selbstbewußtsein wie auch unsere Absicht, uns für eine demokratische und politische Lösung einzusetzen. Es kann aber auch sein, dass wir weiterhin diesen Weg gehen und die Regierung sich trotzdem nicht bewegt. Dann wäre der legitime Verteidigungskampf angesagt. Und das ist unser natürliches Recht. Aber zu dem jetzigen Zeitpunkt meinen wir, dass die Lösung nicht mit Krieg sondern mit demokratischen wie auch politischen Mitteln möglich ist. Es ist auch im Sinne der Türkei.Versäumt sie solche Schritte, kann es sein, dass wir kämpfen und da kann sie mit sehr ernsthaften Problemen konfrontiert werden. Was in Syrien und im Irak passiert, könnte durchaus auch in der Türkei passieren. Ich bin der Ansicht, dass der Türkei dies vollkommen bewußt ist. Die Entwicklungen werden sie dazu zwingen, sich zu bewegen. Sie muss über ihren Schatten springen. Sonst drohen Zustände wie in Syrien oder im Irak.

Sie meinen, sie ist dazu gezwungen, die Schritte zu unternehmen, ob sie will oder nicht.

Bayık: Ja. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht mehr kämpfen, wenn die Türkei so weit ist. Im Gegenteil: Wir müssen dann noch mehr kämpfen, damit die Türkei diese Schritte rasch unternimmt. Das ist im Sinne der Kurden wie auch aller Völker und Kulturen in der Türkei.

Das heisst, Sie stehen offen gegenüber dem Angebot von Besir Atalay, eine neue Delegation nach Kandil zu senden.

Bayık: Wir sind immer bereit gewesen. Wir haben bislang niemanden zurückgewiesen. Sei es Presse, Delegationen oder internationale Institutionen. Offenheit ist unser Prinzip. Zurückweisung halten wir für nicht richtig.

Bei unserem letzten Gespräch ging es kurz um die Gülen-Bewegung. Ihre Worte fanden viel Beachtung. Sie hatten gesagt: “Wir wollten mit ihnen reden, aber sie wollten es nicht”. Hat sich seitdem was geändert?

Bayık: Nein, die Gülen-Bewegung ist nach wie vor distanziert.

Ich gehe davon aus, dass Sie den Konflikt zwischen der Regierung und der Gülen-Bewegung in der Zwischenzeit verfolgt haben. War das alles zu erwarten oder kam es doch zu Überraschungen? Was meinen Sie?

Bayık: Nichts hat uns überrascht. Alles verlief so, wie wir es erwartet haben. Denn die zwei Seiten haben sich verständigt. So erfogte schließlich die Präsidentschaftswahl. Nachdem beide Seiten die Opposition unwirksam gemacht hatten, kämpften sie um die Vormacht. Es war ja unvermeidlich, sie wollten die Macht nicht teilen. Eine Seite musste aus dem Weg geräumt werden. Das lief zwischen Fethullah Gülen und der AKP genauso. Sie handelten bis zu einem gewissen Punkt gemeinsam und dann begann der Kampf um die Vormacht. Die AKP besaß bei diesem Kampf mehr Vorteile und sie nutzte diese auch optimal. Sie drängte die Gülen-Bewegung in die Ecke. Kann sie die Gülen-Bewegung vollends aus dem Weg räumen? Nein, das ist nicht möglich. Denn diese stützt sich auf eine bestimmte gesellschaftliche Schicht. Zudem wäre es für die AKP nicht so vorteilhaft. Deshalb glaube ich nicht, dass sie es tun. Die AKP wendet sich an bestimmte Anhänger der Gülen-Bewegung, um die Konkurrenzsituation zu entschärfen. Und diese Kreise möchte sie an sich ziehen. Aus der Sicht der AKP betrachtet, ist diese Politik richtig.

Es ist Ihren Erklärungen nach den Wahlen zu entnehmen, dass der Erfolg von Selahattin Demirtas im Wahlkampf Sie erfreut hat. Hatten Sie mit dem Ergebnis gerechnet?

Bayık: Wir hatten 10 bis 13 Prozent erwartet. Sein Ergebnis ist ziemlich  zufriedenstellend. Einerseits zeigt es, dass die HDP als Projekt ausbaufähig ist. Andereseits, dass die HDP eine richtige Opposition in der Türkei bildet. HPD darf sich nun mit diesem Ergebnis nicht zufrieden geben. Es muss der Stärkung der Organisation zugute kommen. Jetzt ist für die HDP Organisationsarbeit angesagt. Gelänge es ihr, die Kurden, die Alewiten, die demokratischen Muslime, Linke und die Liberalen für sich zu gewinnen, kann sie dann zur größten Oppositionskraft in der Türkei werden. Sie muss sich allerdings von einigen marginalen Elementen loslösen.

Können Sie ein Beispiel dafür geben?

Bayık: Es ist zum Beispiel eine Gruppierung in Beyoglu ...

Sie meinen, in Cihangir ...

Bayık: Ich möchte hier keine Namen nennen. Ich glaube, das was ich sage, ist angekommen. Wenn man von Sensibilitäten redet, ja, die Werktätigen haben auch ihre Sensibilitäten. Gewinnt die HDP alle für sich und werden Taten ihren Worten folgen, hat sie ein großes Potential, um zu einer großen oppositionellen Kraft zu werden.

Wir wissen alle, dass Erdogan mit dem Präsidialsystem liebäugelt.

Bayık: Ja, es ist offensichtlich.

Einige in Ihren Reihen haben die Meinung geäußert, dass es für die Lösung des Kurdenkonflikts eine gute Alternative wäre. Das hat eine Diskussion ausgelöst. Ich habe bislang keine Erklärung vernommen, in der Sie offen Ihre Meinung sagen. Was halten Sie von dem Systemwechsel? Für den Systemwechsel wird man auf Ihre Unterstützung, aber zumindestens auf Ihre Zustimmung angewiesen sein. Werden Sie da behilflich sein?

Bayık: Wir werden niemanden unterstützen, der auf eine Hegemonie aus ist. Und unserer Meinung nach tut Erdogan dies. Er möchte unbedingt der Alleinherrscher werden. Das ist sowohl für die AKP als auch für alle Völker gefährlich. Denn es fördert nicht die demokratischen und freiheitlichen Kräfte. Im Gegenteil, es wird alles einschränken, gar gefährden. Abdullah Gül veröffentlichte eine Erklärung, in der er das parlamentarische System verteidigt. Er verkündete, dass er von Präsidial- oder Halbpräsidialsystem nichts hält. Wir sind auch der Meinung, dass das parlamentarische System demokratischer ist als das Präsidial- oder das Halbpräsidialsystem. Wir setzen uns für eine Demokratisierung in der Türkei ein. Wir wollen, dass eine demokratische Gesellschaft und Politik aufgebaut wird. Das Präsidial- oder das Halbpräsidialsystem wird dies gefährden. Deshalb ist das parlamentarische System demokratischer. Man muss auch dabei die Gesinnung der Partei bzw des Parteiführers, die/der das Präsidialsystem bevorzugt, besonders beachten. Je nach Gesinnung würde sich das System entweder als gefährlich erweisen oder für positive Entwicklungen sorgen. Es könnte durchaus sein, dass jemand mit demokratischer Gesinnung aus dem Land per Präsidial- oder Halbpräsidialsystem ein demokratischeres Land macht. Nichtsdestotrotz kann jemand, der nach Alleinherrschaft strebt, die Demokratie und die Freiheit einschränken. Sogar gefährlichere Entwicklungen könnten folgen. Deshalb ist das Präsidial- oder das Halbpräsidialsystem gefährlich und zweifelhaft. So ein System wäre zudem “vielseitig” einsetzbar. Das parlamentarische System bietet dagegen Sicherheit. Es gibt in der Türkei noch Kräfte, die sich gegen die anti-demokratischen Prozesse auflehnen. Aus diesem Grund könnte das Präsidialsystem oder das Halbpräsidialsystem in der Türkei zu einem grundlegenderen Systemwechsel führen. Der Wechsel hin zur Demokratie ist ausschlaggebend. Das ist das, wofür der Staat sorgen müßte. Aber zum jetzigen Zeitpunkt gibt es wenig Hoffnung.

Es sieht so aus, als würde Ahmet Davutoglu als Ministerpräsident gewählt. Das hat der Präsident Gül auch angedeutet. Was halten Sie von dieser Entwicklung?

Bayık: Für uns zählen nicht die einzelnen Personen, sondern die Institutionen oder das System an sich. Es mag durchaus sein, dass Davutoglu eine geeignete Person ist. Aber wenn das System nicht demokratisch konstruiert ist, würde da die demokratischste Person keinen Erfolg haben. Deshalb muss man die Probleme auf der Basis des Systems bewerten und nicht nach Personen. Es ist fast sicher, dass Ahmet Davutoglu Ministerpräsident wird. Ebenso ist sicher, dass Hakan Fidan  Außenminister wird. Offenbar möchte Erdogan, dass der Systemwechsel zusammen mit einem vertrauten Team vollzogen wird. Ohne die vertrauten Personen an entscheidenden Stellen zu positionieren, kann er sein System nicht durchsetzen, das er geplant hat. Es ist naheliegend, dass Erdogan bei diesen personellen Entscheidungen eine große Rolle spielt. Das steht ihm auch zu. Wenn er einen Systemwechsel vollbringen will, kann er dies nur mit seinem eigenen Team verwirklichen. Jeder würde so handeln.

Ein Teil der Opposition in der Türkei beargwöhnt den Lösungsprozess und überhaupt die Verhandlungen mit Öcalan insgesamt. Es wird behauptet, dass es sich hier um eine “Handelsbeziehung” handele und Sie Erdogan es sehr leicht machen würden. So, als hätten Sie mit Erdogan eine Abmachung darüber, dass Sie ihm nicht im Wege stehen und ihm gegebenenfalls sogar beistehen würden. Stimmt das?  

Bayık: Für uns zählen weder die Personen noch die Parteien sondern die Grundsätze. Deshalb geht es uns bei den Verhandlungen um Ziele und Grundsätze und nicht um einen “Handel”. Es ist für uns wichtig, dass das bei der Öffentlichkeit auch so ankommt. Welche Partei auch immer an der Regierung ist, ob AKP, CHP, MHP, wir würden mit allen über die Lösung reden. Unsere Ansprechpartner sind jeweils die Parteien und die Regierung. Es steht außer Frage, dass wir bei den Verhandlungen die Unterstützung von anderen Völkern, Kulturen, Religionsgemeinschaften und Konfessionen benötigen. Die Schlussvereinbarung wird dennoch nur mit dem Staat bzw der jeweiligen Regierung getroffen. Heute ist unsere Ansprechpartnerin die AKP, weil sie an der Regierung ist. Wenn die CHP, MHP oder andere Partei die Regierungspartei wäre, würden wir uns natürlich mit ihr beraten. Nicht, dass wir die AKP gut finden oder etwa Anhänger von ihr sind. Den Sachverhalt so darzulegen, ist gelinde gesagt, eine üble Nachrede. Für uns besteht zwischen Ciller und Erdogan gar kein Unterschied. Sie haben vielleicht unterschiedliche Methoden. Ciller wollte uns beispielsweise mit militärischen Mitteln aus dem Weg räumen; Erdogan dagegen neigte eher zu politischen Instrumenten. Seine Methode war der psychologische Krieg. Das ist der einzige Unterschied. Wie kommt man überhaupt auf den Gedanken, dass wir der AKP nahestehen? Das ist eine offensichtliche Verdrehung unserer Position. Die Auffassung, dass wir die AKP unterstützen und deshalb einiges erreichen würden, ist komplett falsch. Unsere Bewegung führt am konsequentesten den Kampf für Demokratie und Freiheit in der Türkei. Der Kampf der PKK hat vielen Personen und Organisation den Weg geöffnet. Unsere Organisation ist nach wie vor der entschiedenste Gegner der AKP. Hinsichtlich eines Mentalitätswechsels setzen wir unsere Anstrengungen fort und dabei sind wir es, die Initiative ergreifen.

Sie würden also die Auffassung nicht teilen, dass Sie im Gegenzug für die Autonomie auf Demokratie verzichten würden?

Bayık: Niemals. Wir geben weder die Demokratisierung noch die demokratische Autonomie auf. Eher ergänzen sie sich. Wir möchten, dass die HDP zum Demokratisierungsprozess in der Türkei einen großen Beitrag leistet. Dies ist unser Ziel. Denn die Lösung des Kurdenkonflikts hängt eng mit der Demokratisierung der Türkei zusammen. Einige linksliberale Intellektuelle vertreten die Meinung, dass die PKK Erdogan bzw die AKP unterstüze. Sie sagen: “Erdogan ist ein Diktator. Wenn die PKK die Lösung mit ihm sucht, hiesse das, dass sie die Diktatur bestärkt”. Vielmehr ist es jedoch so, dass die Türkei eher demokratischer und die demokratische Autonomie in Kurdistan aufgebaut wird, wenn wir mit der AKP gemeinsam den Konflikt lösen. Sollte die AKP sich jedoch gegen die demokratische Autonomie und die Demokratisierung der Türkei wehren, so hätten wir ohnehin keine Chance mehr, mit ihr zu verhandeln. Es ist ja nicht so, dass wir die AKP nicht bekämpfen. Das haben wir in der Vergangenheit getan und zwar sehr heftig. Und im Moment versuchen wir, mit ihr zu reden. Solange sie dazu bereit ist, sind wir auch dabei. Mit einer Diktatur oder dem Faschismus hätten wir nichts gemein. Ein diktatorisches bzw faschistisches Regime würde sich so etwas wie die Demokratisierung oder die Lösung des Kurdenkonflikt ohnehin nicht vornehmen. Im Grunde werden alle Konflikte in Zusammenarbeit mit den Regierungen, teilweise sogar mit den faschistischen gelöst. Wo eine demokratische Partei an der Macht ist, könnte von einem kurdischen Konflikt oder von Nichtanerkennung und Vernichtung ohnehin nicht die Rede sein. Klar setzt man sich mit jenen auseinander oder löst man Konflikte, die nicht die Demokratisierung sondern die Nichtanerkennung bzw Vernichtung auf ihre Fahne schreiben.

Als das Denkmal noch stand, war es für einige ein Dorn im Auge. In ihrer Gegenkampagne stellten sie erbost die Frage: “Wie kann man so etwas zulassen?” Als es abgerissen wurde, hiess es: “Wie kann man mit dieser Regierung verhandeln”? Könnte dieser Vorgang in Lice eine Unterbrechung im Lösungsprozess verursachen?

Bayık: Mit der “entweder schwarz oder weiss”-Einstellung darf man keine Politik machen. In der Türkei ist sie sehr verbreitet - man sagt entweder schwarz, oder weiß. Für uns dagegen gibt es zwischen Schwarz und Weiß etliche andere Farbtöne. Danach richten wir unsere Politik. Wir orientieren uns nach optimalen Möglichkeiten, nachdem wir lange viele andere überdenken oder in Betracht gezogen haben. Entgegen der gängigen Praxis in der Türkei gehen wir an die gegenwärtige Situation nicht mit dem Schwarz-Weiss-Denken heran. Es kommt vor, dass, wenn man sich auf einem guten Weg in Richtung Lösung wähnt, unerwünschte Sachen passieren. Das ist ein weltweites Phänomen – warum soll es auch in der Türkei oder in Kurdistan nicht vorkommen? Natürlich wollen einige die Verhandlungen torpedieren. Diese werden für Provokationen, Störungen und Konfliktfelder sorgen. Wir müssen alle Eventualitäten in Betracht ziehen. Wir haben uns schon zu den Vorgängen in Lice geäußert. Wir erwarten von den Kräften, die sich für eine Lösung des Kurdenkonflikts einsetzen, eine andere Haltung gegenüber den Sensibilitäten des kurdischen Volkes. Jene, die da begraben sind, sind Söhne dieses Volkes. Mahsun Korkmaz gehört ebenfalls dazu. Man muss Respekt zeigen. Die Zerstörung des Denkmals mithilfe von Panzern und Hubschraubern trägt nicht gerade zum Lösungsprozess bei. Jeder Kurde würde dies als Brandstiftung auslegen und es als Botschaft einer “Wir werden Euch abfackeln”-Drohung verstehen. Es ist doch selbstverständlich, dass das Volk sich dagegen wehrt. Es ist sein natürliches Recht. So wie ein türkischer Soldat dem türkischen Volk eine hohe Bedeutung beimisst, hat das Grab eines Guerillos für die Kurden ebenfalls eine hohe Bedeutung. Ein diesbezüglicher Übergriff kommt einem Übergriff auf das kurdische Volk, auf seine Werte gleich. Deshalb müssen diejenigen, die ein echtes Interesse daran haben, den Verhandlungsprozess fortzuführen, die Sensibilitäten dieses Volkes berücksichtigen. Sie dürfen diesem Volk nicht schaden und es nicht provozieren. Wir respektieren andere Werte, deshalb erwarten wir die gleiche Rücksicht. Besir Atalay sagt beispielsweise: “Der Staat ist rücksichtsvoll, er würde so etwas nicht zulassen. Das gilt auch für die Zukunft.” Ich befürchte, dass der Staat seine Härte/Autorität demonstrieren will. Das kurdische Volk wird diese Autorität nicht hinnehmen, wenn sie sich so zeigt. Es hat jahrelang einen Kampf dagegen geführt. Sollen wir jetzt davon ausgehen, dass man kein Interesse an einer Lösung sondern am Krieg hat? Denn diese Haltung kommt einer Kriegseinladung gleich. Ich sage es Ihnen ganz offen: Seit einigen Tagen kommen von unseren Kämpfern Vorschläge – dahingehend, dass wir den Prozess stoppen sollten, falls das Denkmal vernichtet würde. Wir raten Ihnen trotzdem zur Geduld. Wir sagen Ihnen, dass es nicht richtig wäre, diesen Vorgang zum Anlass nehmen und in den Krieg zu ziehen. Sie sollten lernen, über diesen emotionalen Reaktionen zu stehen. Das heisst, wir haben einiges verhindert. Wir müssen jedoch damit rechnen, dass einige nicht auf uns hören. Denn sie werden tatsächlich bedrängt. Die Bereitschaft, in Kobane oder in Shingal zu kämpfen, ist in Lice auch vorhanden. Es ist für uns schwer, sie zurückzuhalten. Manche desertierten sogar. Da wir es ihnen nicht erlauben, dorthin zu gehen, desertieren sie und tun es dann doch. Wir haben zwar ein paar von ihnen gefasst, aber es gibt auch welche, die es doch geschafft haben, dorthin zu gelangen. Einige haben wir zurückgeholt. Ich weiss nicht, wie lange es uns gelingt.

Es ist ein sehr wichtiger Fall ...

Bayık: Sicherlich. Wir haben mit einigen Gefährdungen zu tun. Das können wir nicht zulassen. Man versucht, unsere Werte anzugreifen. Und das in einer Zeit, in der man von Lösung redet. Das lassen wir nicht zu. Das ist ein Angriff auf unsere Werte und auf unser Volk. Wir müssen uns dagegen wehren.

Im Grunde haben beide Seiten ihre Sensibilitäten, seien es Themen, Werte oder Namen. Und es gibt viele, die den Prozess torpedieren wollen. Wie wird der Lösungsprozess unter diesen Umständen bewerkstelligt?


Bayık: Uns ist das alles bewußt. Wir stemmen uns gegen die Meinungen wie auch Haltungen, die diesen Prozess zurückstellen oder torpedieren wollen. Ob sie sich unter uns oder woanders befinden. Aber es darf nicht eine einseitige Rücksicht sein. Wir erwarten sie auch vom türkischen Staat bzw von der türkischen Regierung. Einige Handlungen führen zu Provokationen, in einer Zeit, in der der Dialog ausbleibt. Alle Probleme müssen wir im Dialog lösen. Die Provokationen würden nur in die Hände derer spielen, die den Prozess torpedieren wollen. Es ist nicht so, dass nur die Türkei irgendwelche Sensibilitäten hat. Das kurdische Volk hat auch welche. Wer für die Lösung ist, muss auf diese Sensibilitäten Rücksicht nehmen. Es ist ungerecht, nur auf die türkischen Rücksicht zu nehmen, ohne auf die kurdischen zu achten und dabei von den Kurden diese Rücksicht zu fordern. Vielmehr müsste der türkische Staat die Sensibilitäten von Kurden berücksichtigen. Die Kurden nehmen ja dem türkischen Staat nichts weg. Sie beleidigen ihn nicht, verbieten ihm nichts. Der türkische Staat dagegen wendet Restriktionen an. Offensichtlich zählen nur türkische Sensibilitäten, ohne auf andere Sensibilitäten Rücksicht zu nehmen. Sie sagen sich: “Wir sind der Staat, wir haben unsere Gesetze, wir machen, was wir wollen. Wir erlauben nicht, dass unsere Autorität übergangen wird”. Das bedeutet, dass sie mit überholter Logik handeln. Diese Logik führt leider dazu, dass die Konflikte härter werden und sich damit gefährliche Dimensionen eröffnen.




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