Die Staatskrise und ihre möglichen Auswirkungen auf den Lösungsprozess

31.03.2015 aljazeera.com.tr
Übersetzt von: Gülçin Wilhelm /
Orjinal Metin (tr-28.03.2015)

Die Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und dem Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, die schrittweise eskalieren und sich zu einer Staatskrise auszuweiten scheinen, drehen sich nicht ausschließlich um den Lösungsprozess des Kurdenproblems. Vor diesem Hintergrund war es angebracht, dass Abdülkadir Selvi, ein Autor der Tageszeitung „Yeni Safak“, die Aufmerksamkeit auch auf die polemischen Äußerungen von Erdogan zur Zentralbank bzw. sein Widerstreben gegen die Kandidatur Hakan Fidans (ehemaliger Direktor des Nachrichtendienstes MIT) für die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) lenkte. Dass Selvi, der als ein Insider gilt, den besagten Artikel mit folgendem Satz beendet, ist sehr aufschlussreich: „Die AKP hatte mal einen Zauber. Sie wurde von den Massen favorisiert als ein Symbol der Stabilität. Dieser Zauber schmilzt langsam dahin.“

Im Hinblick auf den Ursprung des Konflikts gibt der Text von Ali Bayramoglu, einem Mitarbeiter derselben Publikation, ebenfalls Aufschluss: „Das Subjekt ist und bleibt dasselbe: der Staatspräsident. Wie er in das Regierungsgeschäft eindringt, sich mit der Regierung anlegt und  gegen seine eigene Partei tätig wird, bestätigt die These, dass die eigentliche Krise in der türkischen Politik nicht mit der Grundausrichtung der Regierungspartei sondern der „Individualisierung der Macht“ zusammenhängt.

Unter normalen Umständen wäre zu erwarten gewesen, dass, nachdem Erdogan zum Staatspräsidenten gewählt wurde, wenn auch stufenweise, Abdullah Gül sein Nachfolger werden würde. Es setzte jedoch die Tendenz zur „Individualisierung der Macht“ ein und so gab Erdogan dem hochprofilierten Gül nicht den Vorzug. In der kurzen Zeit seitdem legte Ahmet Davutoglu kein „niedriges Profil“ an den Tag, was Erdogans Wunsch wäre (In diesem Zusammenhang muss man den Fall Fidan unterstreichen). Dass der Konflikt derart offen wie auch gnadenlos ausgetragen wird, ist womöglich ein Zeichen für Erdogans Enttäuschung in über Davutoglu.

Was wurmt Erdogan?

Der Lösungsprozess markiert dennoch die eigentliche Feuerlinie zwischen Erdogan und der Regierung. Dieser stockt allerdings derzeit. Denn zum einen kritisiert der Staatspräsident jeden Schritt der Regierung, die dem Lösungsprozess dient, harsch und öffentlich. Zum anderen schlug er zunehmend einen harten Ton dem Co-Vorsitzenden der HDP (Demokratische Partei der Völker), Selahattin Demirtas, sowie der KSH (Kurdische Politische Bewegung) gegenüber an. So, dass man denken würde, Davutoglu habe den Lösungsprozess in die Wege geleitet, ohne Erdogan davon in Kenntnis zu setzen. Der eigentliche Wegbereiter des Prozesses ist jedoch Erdogan selbst gewesen. Die Ausführer innerhalb des Staates sind ebenfalls dieselben geblieben. Der Koordinator des Prozesses in der Regierung ist nach wie vor der Vizepremier Yalcin Akdogan, der bis vor kurzem zum engsten Kreis Erdogans gehörte. Die Beobachterkommission, gegen die sich Erdogan jetzt sträubt, war von Anfang an vorgesehen. Die Namen, die für die Kommission ausgewählt sind, finden sich in der „Liste der Weisen“, der Erdogan zugestimmt hatte.

Was wurmt Erdogan also? Meiner Ansicht nach gibt es auf diese Frage mehr als eine Antwort. Zuerst muss betont werden, dass von den Entwicklungen wie der „demokratischen Öffnung“, „Oslo“ (2011 trafen sich dort Regierungsvertreter und Kurdenpolitiker) und nicht zuletzt des „Lösungsprozesses“ die unmittelbar Beteiligten, also AKP und KSH profitierten, wohingegen die Zögerlichen, also MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) sowie CHP (Republikanische Volkspartei) eher Schaden nahmen.

Der Hauptnutznießer scheint aber die KSH zu sein. Dass Abdullah Öcalan als Verhandlungspartner der Regierung an Legitimation gewann, die HDP sich an der Schwelle zur 10-Prozent-Hürde befindet, die PKK unter unterschiedlichen Namen in Syrien bzw. im Irak zu den Hauptakteuren avancierte, gegen den IS(IS) erfolgreich kämpft und wegen ihrer Kämpferinnen in der Weltöffentlichkeit zu Ansehen gelangte – von all dem ausgehend kann man behaupten, dass die KSH derzeit ihre goldenen Zeiten durchlebt und die obengenannten Prozesse darauf große Auswirkungen hatten.

Was Erdogan zudem stört, ist vermutlich die Tatsache, dass die KSH trotz dieser Errungenschaften die Waffenniederlegung, die wesentlichste Forderung der Regierung, verzögert und dafür neue Zugeständnisse von Seiten der Regierung voraussetzt. Hier haben wir es mit einem bemerkenswerten Paradox zu tun: Als Erdogan, verärgert darüber, dass die KSH auf Zugeständnissen beharrt, sich gegen die Gründung der Beobachterkommission aussprach, verzichtete Öcalan in seinem Newroz-Brief auf einen festen Termin für einen PKK-Kongress, dessen einziger Tagesordnungspunkt vermutlich die Waffenniederlegung werden wird. Aus der unmittelbar danach veröffentlichten Erklärung des Vizepremiers Bülent Arinc ist zu entnehmen, dass Öcalan eventuell zu einem „dringenden“ Kongress aufgerufen hätte, wenn Erdogan sich nicht gegen die Beobachterkommission gesträubt hätte.

Der Aufstieg der HDP

Was Erdogan ebenfalls beunruhigt ist die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die HDP, wie auch die MHP, bei den bevorstehenden Wahlen der AKP Stimmen abnehmen könnte. Der derzeitige Aufstieg der HDP kann u. a. mit der unwillentlichen Unterstützung derjenigen Wähler begründet werden, die eine starke Abneigung gegen Erdogan hegen, aber gleichzeitig keine Hoffnung mehr auf CHP oder MHP setzen.
Wobei ich nach wie vor denke, dass der eigentliche Motor des eventuellen Sprungs über die 10-Prozent-Hürde die Kurden sind. Es sind jene, die zum ersten Mal wählen, die im Ausland leben und diejenigen, die bei den vorangegangenen Wahlen der AKP oder – wenn auch wenige - der CHP die Stimme gegeben haben.

Bei der Abwendung der kurdischen Wähler – ob im Südosten oder Westen der Türkei wie auch im Ausland – von der AKP in Richtung HDP sind folgende Argumente ausschlaggebend:

1  Die KSH wurde vom Staat als Verhandlungspartner akzeptiert und endgültig legitimiert.


2  Die Stärkung und die Verbreitung der kurdischen Identität entwickelte sich in großem Maße.


3  Diese Bewegung avancierte unter der Führung von Öcalan zu einem der Hauptakteure im Nahen Osten.


4  Der Triumph der kurdischen Kämpfer und Kämpferinnen in Kobane und die Haltung Erdogans bzw. der Regierung, die in kritischen Situationen Hilfe verweigerte.


5  Die Kehrtwende Erdogans zu einer Position, die er mit den Worten „Es gibt kein Kurdenproblem, es gibt Probleme bei meinen kurdischen Brüdern“ zum Ausdruck brachte.


6  Die Angriffe Erdogans und relevanter Regierungsvertreter sowie der diese stützenden Medien auf Demirtas aber auch auf die anderen Führer der KSH.

Der Aufstieg der MHP

Es ist nicht so, dass im Moment – trotz erlangter Fortschritte - nichts für eine absehbare Lösung der Kurdenfrage spricht, welche die KSH in die Bredouille brächte. Fast könnte man meinen, dass die KSH von diesem chronischen Schwebezustand des Lösungsprozesses profitierte. Andererseits beschädigt die Tatsache, dass die Lösung immer noch nicht vollbracht wurde, und die PKK nach wie vor ihre Existenz mit Waffen – sogar stärker als früher – fortführt, das Vertrauen, welches einmal in Erdogan bzw. in die AKP gesetzt worden war.

Vor diesem Hintergrund sind die Stimmen ernst zu nehmen, die behaupten, die Wähler wanderten von der AKP zur MHP, und Erdogan sorge für eine Verschleppung des Lösungsprozesses. Denn wir wissen, dass Erdogan – schon seit er das Amt des Vorsitzenden der Refah (Wohlfahrtspartei) in Istanbul bekleidete – großen Wert auf Meinungsumfragen legt.

Hier stoßen wir allerdings auf einen anderen Widerspruch: Wir wissen zwar nicht, wie sich die Äußerung Erdogans („Es gibt keine kurdische Frage“) auf die Wähler auswirkt, die zum türkischen Nationalismus neigen, aber es ist wahrscheinlich, dass diese Position Erdogans die ehemaligen kurdischen Sympathisanten seiner Partei zur HDP treibt.

Unterdessen legen einige Oppositionsvertreter, sofern sie in der Kandidatur Fidans ein „abgekartetes Spiel“ sahen, ihr Unvermögen, die Gegensätze, Zerwürfnisse und die Krisen in der Regierung richtig zu interpretieren, erneut an den Tag: Diesmal geht es um den Lösungsprozess. Ihrer Ansicht nach ist Erdogan bemüht, die türkischen Nationalisten für die AKP zu gewinnen, indem er sich gegen den Lösungsprozess äußert. Die Regierung wiederum buhlt um kurdische Nationalisten, um diese für die AKP zu gewinnen, indem sie am Lösungsprozess festhält.

Diese Feststellung wäre eventuell glaubhaft, nähmen beide Seiten der politischen Macht, sowohl Erdogan als auch die Regierung, diese Positionen mit kühlem Kopf ein. Dem ist aber nicht so. Jede Erklärung, die im Dissens abgegeben wird, jeder indifferente Schritt, beschädigt beide Seiten immer mehr.

Revision, Neugestaltung, Wiederaufbau

In Regierungskreisen heißt seit längerer Zeit, dass die Unstimmigkeiten innerhalb der KSH die Hauptursache für die Unterbrechungen, Spannungen und Probleme bei der Durchführung des Lösungsprozesses seien. Die Regierung war bemüht, die Haltung Öcalans positiv, aber die der PKK-KCK (Arbeiterpartei Kurdistans-Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) negativ darzustellen. Die jüngsten Vorgänge jedoch haben gezeigt, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Vor diesem Hintergrund müsste man – zusätzlich zu den Differenzen zwischen Erdogan und der Regierung – einer Tatsache besondere Beachtung schenken: Regierungskreise werteten die „Esme-Geist-Bemerkung“[1] in Öcalans Newroz-Brief positiv. Das wurde vom Generalstab umgehend scharf kritisiert; und diese Kritik wurde von der Regierung einfach so hingenommen.

Schlussfolgernd kann man sagen, dass die Zukunft des Lösungsprozesses von dem Fortgang der Staatskrise abhängt. Es scheint zwischen dem Staatspräsident und der Regierung ein Mittelweg gefunden worden zu sein, nach dem die Koordinierung des Lösungsprozesses intensiviert, der Prozess – wenn auch langsam – fortgeführt wird und die Zerwürfnisse nicht öffentlich ausgetragen werden.
Jetzt müsste man eigentlich die Beobachterkommission konstituieren, um sie nach Imrali zu entsenden. Nach den zahlreichen harschen Beteuerungen Erdogans sieht es aber nicht danach aus, dass Öcalan die PKK zu einem absehbaren Termin – nach Regierungskreisen zum 15. April – zu einem Kongress aufrufen würde.

Das naheliegende Szenario wäre: Würden die Wahlen, zwar von diversen Auseinandersetzungen begleitet, aber ohne bewaffnete Konflikte abgehalten, dann würde der Lösungsprozess – je nachdem, ob die HDP die Hürde schafft oder nicht, und je nachdem, wie viele Sitze die AKP erhält und wie sich die MHP schlägt – da wieder ansetzen, wo er unterbrochen worden war, aber sicherlich in ganz anderen Formen.

Auf alle Fälle werden Begriffe wie „Revision“, „Neugestaltung“ und „Wiederaufbau“, die Öcalans Newroz-Brief zum Lösungsprozesses enthält, nach den Wahlen wieder reichlich verwendet werden.


******
[1] Das Süleyman-Sah-Grabmal befindet sich in der Provinz Esme, die gegenwärtig unter der Kontrolle von der PYD (Partei der Demokratischen Union) steht.




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