„Wie können wir mit dieser Barbarei fertig werden?“

11.01.2015 Habertürk
Übersetzt von: Gülçin Wilhelm /
Orjinal Metin (tr-08.01.2015)

Sie ist eine der bedeutendsten Vertreterännen der modernen Soziologie. Man kann schon behaupten, dass Nilüfer Göle ihr Leben dem Zweck widmete, dass die islamische Welt und der Westen sich vorurteilsfrei kennenlernen und sich annähern. Wegen dieser Haltung war sie von ihrem eigenen laizistischen Umfeld dauernd kritisiert, ja zum Teil sogar isoliert worden. Deshalb kündigte sie vor  einiger Zeit ihre Stelle an der Bogazici-Universität und wechselte an die EHESS, die Hochschule für Sozialwissenschaften, in Paris.
Ich hatte die Chance, nur ein paar Stunden nach dem Attentat auf Charlie Hebdo mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie war schockiert. Sie sagte: „Die Lage ist sehr ernst. Es ist furchtbar. Das ist nicht mehr Terror, sondern schlicht Barbarei.“ Sie war der Ansicht, dass die Islamophobie sich in einer Reihe von europäischen Ländern, aber insbesondere in Deutschland, regelrecht verstärken würde, und dass davon, wie alle Muslime, auch die Türken in Europa betroffen sein würden. Ich bekam auf meine Frage, was man dagegen tun könne, eine Antwort, die äußerst resigniert klang: „Wäre zur Zeit in der Türkei eine AKP-Regierung an der Macht, die vom Westen genauso geschätzt würde wie beispielsweise vor fünf Jahren, und bezöge diese eine Position, die sich strikt gegen diese Barbarei wendet, so hätten wir etwas erreicht. Aber es sieht gar nicht danach aus. Deshalb sind wir in einer fürchterlichen Lage.“

Zeitgleich erscheint ein islamfeindlicher Roman
Danach sprach ich mit Riva Kastoryano, einer Wissenschaftlerin aus der Türkei, deren Themenfelder am Zentrum für internationale Studien und Forschung in Paris (CERI) Migration sowie Fremdenfeindlichkeit umfassen. Sie unterstrich die Professonalität dieses Terrorakts, der, seit dem Anschlag auf einen Regionalzug 1994, welcher der algerisch-stämmigen Bewaffneten Islamischen Gruppe (GIA) zugeschrieben wird, als größter seiner Art gilt. Zudem wies sie darauf hin, dass das Attentat genau auf den Tag fiel, an dem „Soumission“, der in Frankraich umstrittener islamfeindlicher Roman, in die Buchhandlungen kam. Der Roman des provokanten Autors Michel Houellebecq, der als Karikatur auf der Titelseite der letzten Ausgabe der Charlie Hedbo abgebildet wurde, handelt von einem Moslem, der 2022 gegen die ultranationalistische Nationale Front die Präsidentschaftswahl gewinnt.

Wir alle sind in Trümmern verschüttet
An sich hatte ich mir heute vorgenommen, über die Krise des politischen Islam in der Türkei zu schreiben. Die sinn- und nutzlosen Erklärungen, die hinsichtlich des Anschlags in Paris abgegeben wurden, führen  diese Krise umso deutlicher vor Augen. Andererseits ist das nicht verwunderlich. Nach den Al-Qaida-Anschlägen vom 11. September 2001 beziehungsweise in der Zeit vom 15. bis 20. November 2003 in Istanbul waren ähnliche Reaktionen zu verzeichnen. Dennoch unterscheidet sich das Attentat vom 7. Januar in Paris von dem vom 11. September in vieler Hinsicht. Diesmal denkt man zwangsläufig an den IS(IS). Es ist jedoch denkbar, dass Al-Qaida, die in letzter Zeit in seinen Schatten geraten ist, ebenfalls hinter dem Anschlag steht. In jedem Falle sollten wir genau hinsehen, was sich seit dem 11. September verändert hat und wir sollten zwischen IS(IS) und Al-Qaida genau unterscheiden.
Was tun? Nach dem 11. September 2001 hatte ich folgendes geschrieben: „Die islamische Welt samt Gläubigen und Ungläubigen, Rechts- und Linksgerichteten, Arabern, Türken und Persern muss sich  unverzüglich mit ihrer eigenen Realität auseinandersetzen. Das ist eine Notwendigkeit, die nicht mehr verschoben werden darf. Natürlich soll es nicht aus dem Grund geschehen, weil die USA oder der Westen darauf beharren. Gelingt uns jedoch die Selbstkritik, so wird es dem Westen ebenso gelingen, sich mit dem Dämon in sich auseinandersetzen.“
Und so lautete der letzte Absatz meines Artikels für die Zeitschrift „Birikim“, den ich nach den Anschlägen in der Zeit vom 15. bis 20.11.2003 verfasst hatte: „Anstatt unbrauchbare Erklärungen abzugeben, wie: 'Im Islam gibt es keinen Terror“ oder „Muslime tun so etwas nicht“, sollte man darauf fokussieren, die islamischen Länder zu demokratisieren, deren Zivilgesellschaft zu stärken, Menschenrechte und -freiheiten zu gewährleisten und den Rechtsstaat aufzubauen. Aber das ist kein leichtes Unterfangen, ja es ist vielleicht sogar unmöglich. Denn wir sind weder willens noch bereit, uns mit unseren eigenen Dämonen auseinanderzusetzen. Und wir hören nicht auf, immer die anderen dazu aufzufordern, Selbstkritik zu üben. Wenn es so weiter geht, werden wir alle in diesen Trümmern verschüttet.“
Ja, leider sind wir in den Trümmern verschüttet. Alle zusammen.




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