Türkei: Der Schaden, der von IS dem Land zugefügt wird, könnte enorm sein

12.10.2014 Vatan
Übersetzt von: Gülçin Wilhelm /
Orjinal Metin (tr-08.10.2014)

Es ist das erste Mal, dass sich vorrückende IS-Verbände einem solchen Widerstand ausgesetzt sehen, wie das in Kobane der Fall ist. Die Islamisten müssen Menschen und Material in einem Ausmaß einsetzen, dass sie riskieren, Orte in Syrien und im Irak wieder zu verlieren, die schon unter ihre Kontrolle gebracht wurden. Seit Beginn der Straßenkämpfe in Kobane, doch ebenso angesichts der Vorgänge in der Türkei, erscheint das nicht mehr verwunderlich. Es besteht kein Zweifel, dass die IS-Führung über eine wirksame strategische Klugheit verfügt. Sie hat sehr wohl begriffen, dass – ungeachtet aller Verständigungsversuche der vergangenen Jahre – in der Türkei Erbitterung und Hass gegen die PKK nicht abgeklungen sind. Sie weiß ebenso, dass daraus jederzeit erneut eine militante  „Kurdenfeindlichkeit“ werden kann. Und sie geht davon aus, Angriff und Eroberung von Kobane – wie auch die Tatsache, dass die Regierung in Ankara den kurdischen Verteidigern weder direkte noch indirekte Hilfe angeboten hat – schüren die inneren Unruhen in der Türkei. Das lässt dort die Zahl der IS-Anhänger weiter wachsen. Auch damit kalkuliert der IS.
Seit sich abzeichnet, dass der verzweifelte Widerstand in Kobane, den man als „Krieg des Gewehrs gegen Panzer“ bezeichnen kann, letzten Endes den IS nicht aufhalten kann, haben die Kurden ihre Aktivitäten europaweit – besonders aber in der Türkei – intensiviert. Die Straßenkämpfe, die sich die Kurdische Politische Bewegung (KSH) mit Sicherheitskräften liefert, haben schlagartig einen neuen Höhepunkt erreicht. Sie erfassen nicht mehr allein die kurdischen Provinzen, sondern die Metropolen des Landes. Daraus folgt, dass die Annäherung, die es mit der Bewerbung des kurdischen Politiker Selahattin Demirtas um das Amt des Staatspräsidenten zwischen der KSH, seiner Halkların Demokratik Partisi und unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen gab, nur von kurzer Dauer war. Die Kurden auf den Straßen und Plätzen der Türkei fühlen sich größtenteils im Stich gelassen. Es fällt auf, dass diese Demonstranten in einigen Städten islamistischen Gruppen gegenüber stehen, die mutmaßlich Verbindungen zum IS haben. Auch sind „zivile“ Sicherheitskräfte, die gemeinsam mit der Polizei die Protestmärsche angreifen, stärker im Einsatz, als das vor zwei Jahren bei den Istanbuler Gezi-Protesten zu beobachten war.

Rückkehr zum bewaffneten Kampf gegen die PKK
Was hier aufgelistet ist, erfasst nur einen Teil des Schadens, der vom IS der Türkei zugefügt wird. Wie kam es dazu? Offenbar hat die Schlagkraft des IS gegenüber den kurdischen Gruppen, die der PKK nahestehen, dazu geführt, dass die vom türkischen Staat und großen Teilen der Zivilgesellschaft vertretene Auffassung – die „kurdische Frage“ kann keinen Fall mit Waffen gelöst werden – wieder zur Disposition gestellt ist. Immer mehr Türken verfolgen das Vorgehen des IS gegen die Kurden in Kobane mit erkennbarer Begeisterung. Ihr Fazit lautet: „Was der IS schafft, das schafft die große türkische Republik erst recht“. Daran hat Präsident Tayyip Erdogan seinen Anteil. Er hat zuletzt bei jeder sich bietenden Gelegenheit IS und PKK gleichsetzt und erklärt, „wenn Kobane fällt“, dann würden auch „die anderen autonomen Kantone (der Kurden in Syrien – R. C.) bald dran“ sein.
Da freilich irrt der Staatenlenker. Von einem triumphalen, weil endgültigen Sieg des IS durch die Einnahme von Kobane kann nicht die Rede sein. Man sollte sich erinnern, dass die türkische Armee 30 Jahre lang die PKK mehrfach schwer bedrängt und zum Verlassen ihrer Stellungen wie Camps im Nordirak gezwungen hat. Ein absoluter Sieg jedoch erwuchs daraus nie – und das ist auch jetzt nicht möglich.
Kurzum, man sollte man sich in der türkischen Regierung durch die Schlacht um Kobane nicht dazu verleiten lassen, den IS als Subunternehmer im Kampf gegen die PKK zu gebrauchen und die Fundamentalisten – offen oder verdeckt, direkt oder indirekt – weiter zu unterstützen. Sollte das die Absicht sein, wird die Türkei noch viele Katastrophen über sich ergehen lassen müssen.




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