Selahattin Demirtas: "Öcalan übt an dem Lösungsprozess schärfere Kritik aus als Kandil“

08.12.2014 rusencakir.com
Übersetzt von: Gülçin Wilhelm /
Orjinal Metin (tr-05.12.2014)

Sie und Ihre Partei sind in Bezug auf die Situation in Kobane schwerer Kritik ausgesetzt. Wie interpretieren Sie das?
Man führte im Zusammenhang mit dem Widerstand in Kobane von 6.-7. Oktober gegen mich und meine Partei einen regelrechten Feldzug, indem man uns für alles verantwortlich machte. Sie wissen im Grunde sehr genau, dass ich bzw. die HDP (Demokratische Partei der Völker) nichts am Hut haben mit Straßengewalt und Morden. Der Staat ist sonst stets darüber im Bilde, wer wer ist und wer was im Schilde führt. Zumal 36 von den dort umgekommenen 51 Menschen unsere Sympathisanten waren. Man kann schon sagen, dass die HDP zur Zielscheibe gemacht worden ist. Man versuchte den Erfolg zu unterbinden, der durch die im Zuge der Präsidentschaftswahlen entstandene Stimmung nun bei den allgemeinen Wahlen der HDP zugute kommen würde. Denn die Wahlen in 2015 für die AKP äußerst entscheidend. Schafft die HDP die Hürde, so kann die AKP weder allein regieren noch allein die Verfassung ändern. Dies würde nicht zuletzt Auswirkungen auf die politischen Verhältnisse in der Türkei haben wie auch im gesamten Nahen Osten. Die Situation in Kobane als Vorwand nehmend führte man eine Art Lynchkampagne. Sie wollten mich und meine Partei diskreditieren und unseren Ruf schädigen. 

Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der Verhandlungen bzw. des Dialogs, die gegenwärtig mit der Regierung geführt werden. Die anderen politischen Akteure distanzieren sich, ja sind sogar teilweise ganz dagegen. Man kann sogar von einer Schicksalsgemeinschaft mit der politischen Führung reden. Ist es denn nicht so, dass beide Seiten stark sein sollten, um überhaupt Erfolg zu erzielen?
Das wäre die logische Schlussfolgerung bei den Friedensprozessen. Die AKP geht jedoch derart pragmatisch vor, dass sie im Vorfeld der Wahlen sogar fast prinzipienlos wirkt. Das ist auch der Grund, warum der Prozess sich in die Länge zog und jedes Mal scheiterte. Für die AKP haben die Wahlen immer Priorität gehabt, sie legte das Hauptaugenmerk stets auf die Wahlen. So verfuhr sie auch diesmal: Sie bevorzugte den Angriff, wodurch die AKP gestärkt und die HDP geschwächt werden sollte – Hauptsache der Wahlerfolg wird gesichert, auch wenn dieser auf Kosten des Prozesses geschieht. Dahinter stand die Überlegung, dass der Prozess irgendwie später mal in Angriff genommen und die Verhandlungen irgendwann wieder aufgenommen werden können. Aber diesmal werden sie damit scheitern. Ich glaube nicht, dass die Fokussierung auf die Wahl der AKP irgend etwas bringt.

Die Journalisten, die der Regierung nahe stehen sowie einige AKP-Politiker behaupten, die HDP habe in letzter Zeit an Kraft und Stimmen verloren.
Noch ist nicht die Wahlstimmung. Zur Zeit liegt die HDP bei neun Prozent. Es ist uns gelungen, den Prozentsatz, den wir bei den Präsidentschaftswahlen erhielten, aufrecht zu erhalten. Von den Kurden kam wegen der Ereignisse auch keine große Kritik an HDP. Die Öffentlichkeit wird irregeführt. Es trifft zu, dass Gewalttaten und Morde eine gewisse Empörung ausgelöst haben – diese richteten sich jedoch auf keinen Fall gegen uns. Dass wir für die Gewalttaten und die Morde nicht verantwortlich sind, ist dem Mann auf der Straße am ehesten bewusst. Eigentlich richtet sich die Empörung gegen die Regierung. Wäre die Regierung im Fall Kobane bedächtig und gelassen gewesen, wäre dies alles nicht passiert. Millionen waren auf der Straße, aber zu Gewalttaten kam es nur in ein paar Ortschaften und Provinzen. Millionen protestierten gegen die Regierung wie auch den ISIS. Unserem Aufruf vom 1. November folgten Hunderttausende von Menschen und darunter war niemand, der gegen die HDP protestierte.

Es waren jeweils separate Aufrufe von der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) und von Ihnen. Die Menschen gingen dann auf die Straße. Nachdem Sie jedoch mit Öcalan besprachen, beendeten Sie die Demonstrationen. Das heisst, mit einem Aufruf wurden die Menschen mobilisiert und mit dem nächsten von der Straße zurückbeordert. Ist die kurdische politische Bewegung tatsächlich in der Lage, die Straße gänzlich im Griff zu haben?
Nicht hundertprozentig, klar. Ich wünschte mir, dass wir uns etwas mehr im Griff gehabt hätten. Das habe ich schon mal gesagt. Und ich wünschte mir, dass wir genug Macht hätten, um die Zwischenfälle zu kontrollieren. Einige Provokationen konnten wir nicht verhindern. Für vieles ist sicherlich die Regierung verantwortlich – nichtsdestotrotz wäre es besser, wenn wir disziplinierter und sorgfältiger gehandelt hätten. Aber Fakt ist ebenfalls: Wir sind die einzige Partei, die zu der Masse eine politische und moralische Beziehung herstellt. Unsere Wähler wie auch die Basis haben in uns ein großes Vertrauen. Da wir darauf achten, dass wir uns emotional und intellektuell stets auf der gleichen Ebene bewegen, finden unsere Aufrufe in der Basis sofort Widerhall. Der Masse war klar, dass wir bis zum Kobane-Aufruf alles in unseren Kräften stehende getan haben. Deshalb sah sie den Zeitpunkt der Protestdemonstrationen ein. Bis dahin haben wir mehrfach den ersten Schritt getan. Wir haben uns mit den Verantwortlichen, allen voran dem Ministerpräsidenten und Ministern, in Verbindung gesetzt. Wir haben Appelle, Presseerklärungen und positive Erklärungen veröffentlicht. Das Volk wartete zuerst die Resonanz und die Öffnung eines Korridors nach Kobane ab. Da dies nicht geschah, und obendrein der Staatspräsident mit seinen Äußerungen den Eindruck erweckte, Kobane würde jederzeit fallen, gewannen die Proteste eine Legitimität.

Was bezweckten Sie eigentlich mit der Forderung nach Öffnung eines Korridors?
Die PYD (Partei der Demokratischen Union) war so weit, von der internationalen Öffentlichkeit gegen Geld oder als Spende Waffen anzunehmen. Damit diese aber Kobane erreichen konnten, mussten sie durch die Türkei transportiert werden – dies war der einzige Weg. Entweder sollten die Waffen nach Urfa eingeflogen und von dort nach Kobane gebracht oder über Habur auf dem Landweg dorthin gelangen. Das wurde aber nicht genehmigt. Man benötigte Panzerabwehrwaffen wie Raketen und Granatwerfer. Das ist nicht illegal, wenn ein Ort von Barbaren belagert wird. Genauso ist es legitim, wenn die Welt Beistand leistet. So ist die Einrichtung eines Korridors nötig, um humanitäre Hilfe und Waffen über die Grenze zu schaffen. Die UN hat dies bereits andernorts ermöglicht. Die Regierung hat sich lange dagegen gesträubt.

Ein Korridor auch für die Kämpfer …
Das war auch eine der Forderungen. Die PYD wollte, dass viele ihrer Kämpfer aus dem Kanton Jazira über die Türkei nach Kobane kommen. Die Regierung hat dies ebenfalls nicht gestattet.

Der Rückzug der PKK wurde im Juni gestoppt. In der Türkei befinden sich sehr viele PKK-Kämpfer. Und der Staat möchte, dass sie abgezogen werden. Diese sind jetzt in Kobane. Wurde darüber verhandelt?
Nein. So etwas wurde von uns niemals angesprochen. So weit ich informiert bin, hat die KCK dies auch nicht zur Sprache gebracht. Zumal es für die Regierung ebenfalls kein Thema war.

Ihre Gegner und die von der AKP behaupten neuerdings, dass folgender Plan ausgeheckt wird: Kommt die HDP gestärkt ins Parlament, so wird sie gemeinsam mit der AKP die Verfassung abändern. Besteht so ein Vorhaben?
Wir legten beim parlamentarischen Versöhnungsausschuss einen Verfassungsänderungsantrag vor, den jeder einsehen kann. Sollte die AKP dem stattgeben, ist eine Einigung möglich. Das gilt allerdings auch für die CHP. Wer Einsicht in den Antrag nimmt, wird indes feststellen, dass er kein einziger Paragraph enthält, der ausschließlich die Kurden betrifft. Unsere dort ausgeführten Vorschläge gehen das ganze Land an. Deshalb wird eine mögliche Annahme dieser Anregungen jedem in der Türkei zugute kommen. Eins möchte ich aber klarstellen: Wir würden im Gegenzug keine Änderung akzeptieren, die in irgend einer Weise der AKP einen Sonderstatus gewähren oder diese stärken würde. Beispiel Präsidialsystem. Solange diese Partei von uns geleitet wird, wird das Thema definitiv unverhandelbar bleiben. Diese Art Präsidentschaft, die sie sich vorstellen, wird es mit uns nicht geben. Wir lassen keine Änderung zu, die nicht der Freiheit und der Demokratie dient. Über die Lösung müssen wir aber mit der Regierung reden. Wir haben sonst keinen Ansprechpartner. Es kann sein, dass wir nach der Wahl einen anderen haben, das wäre wünschenswert. Ich hoffe, dass die HDP stärker wird und im Parlament andere Machtverhältnisse herrschen, so dass der Lösungsprozess effektiver fortgesetzt wird. Aber solange wir keine andere Alternative haben, als mit der AKP zu reden, bring es nichts, daran Anstoß zu nehmen. Diese Verhandlungen sind für mich auch keine Zusammenarbeit. An sich handelt es sich um einen Prozess, der krasse Auseinandersetzungen innehat.

Meinen Sie damit, dass Sie den Prozess mit einem unliebsamen Ansprechpartner durchführen müssen?
Wir haben die AKP nicht gewählt. Die AKP wurde vom 50 Prozent der Bevölkerung gewählt. Wir haben uns unseren Ansprechpartner nicht ausgesucht.

Es ist von einer Annäherung zu der CHP die Rede. Wenn wir den Diyarbakır-Besuch von Kilicdaroglu oder Ihren letzten Besuch berücksichtigen, können wir davon ausgehen, dass die Beziehung zwischen beiden Parteien in letzter Zeit etwas intensiver wurde?
Nein, wir haben gar keine Verbindung zur CHP. Der Diyarbakir-Besuch von Herrn Kilicdaroglu bedeutet nicht unbedingt, dass seine Partei Kontakt zur HDP hergestellt hat. Jeder kann nach Belieben jede Provinz besuchen. Umgekehrt würde ich meinen Izmir-Besuch auch nicht so auslegen, dass dadurch zur CHP eine Brücke gebaut wurde. Von einer Annäherung oder einem Austausch ist nicht die Rede. Allerdings stimme ich Kilicdaroglu zu, wenn er sagt, in der Politik seien 24 Stunden eine lange Zeit. Von Kontakt, Zusammenkünften oder Zusammmenarbeit ist aber keine Rede. Es gibt auch keine Anzeichen dafür.

Besteht überhaupt ein Wille oder gibt es Sondierungen diesbezüglich?
In der Politik sind 24 Stunden eine lange Zeit. Wir wissen alle nicht, was die Zukunft bringen wird. Dies müsste man ausführlich erörtern und sich gegenüber verschiedenen Überlegungen offen zeigen. Aber weder von der CHP noch von uns gibt es in diese Richtung keine Initiative. Solche Gerüchte in Bezug auf Annäherung kommen immer im Vorfeld der Wahlen auf. Darüber zu sprechen, dass es vielleicht doch in die Tat umgesetzt wird, wäre auch verfrüht.

Angenommen, die Wahlhürde bleibt, so wie sie ist. Sie haben verkündet, in so einem Fall bei den Wahlen 2015 als Partei anzutreten. Steht der Beschluss fest?
Das ist richtig. In der Partei geht die Tendenz in diese Richtung. Um es aber offiziell zu beschließen, müssten wir uns etwas in die zeitliche Nähe zur Wahl begeben. Es geht eher um eine prinzipielle Entscheidung als eine richtige Beschlussfassung. Unsere gegenwärtige Aktionen richten sich darauf, dass wir als Partei antreten. Und davon kommen wir nicht ohne weiteres ab. Ich bin der Meinung, dass wir die Hürde schaffen, wenn wir gut arbeiten. Es wäre kein Gesichtsverlust, wenn das Verfassungsgericht dieses Hindernis für die Demokratisierung beseitigen würde. Im Gegenteil: die Geschichte würde es belohnen. Die Tat würde eher als Eingriff in die Rechtlosigkeit als Eingriff in die Politik bezeichnet werden. 

Bei Ihrem Ehrgeiz, die Zahl der Abgeordneten von 40 auf 80 zu steigern, besteht die Gefahr, gar keine Sitze zu gewinnen. Es wird nicht so einfach, zu beschließen, als Partei anzutreten.
Die Politik besteht nicht nur aus der Parlamentsarbeit. Im Parlament vertreten zu sein, darf niemals zu einer Existenzfrage werden. Dass wir vom Gesetz her über komplizierte Wege ins Parlament gekommen sind, darf nun nicht mehr als eine Gabe des Staates interpretiert werden. Diese Sicht bringt uns nicht weiter. Sollte der Staat die Hürde abschaffen und uns dadurch ermöglichen, Politik zu machen, ist es in Ordnung für uns. Sollte dies aber nicht der Fall sein und wir die Hürde nicht schaffen, dann kommen wir eben nicht ins Parlament. Wir sollten aufs Parlament verzichten, wenn wir feststellen, dass nicht einmal 10 Prozent von dem, was wir verteidigen, in den Augen anderer was Wert ist. Zudem wäre es nicht unser Problem, sondern das vom Parlament, wenn es die Lücke durch unser Fehlen verkraftet. Zwei Legislaturperioden haben wir es mitgemacht, aber es wäre völlig in Ordnung, wenn wir gar nicht mehr vertreten sind, falls der Staat in der nächsten Periode nicht einlenken und man für die Werte, die wir verteidigen, nichts übrig haben sollte.

Ihre Partei sieht auch vor, dass man nur zwei mal gewählt werden kann.
Abgesehen von kleinen Ausnahmen möchten wir das durchsetzen. Es gilt auch für mich. Warum sollte ich denn Ausnahme sein? Falls es darüber zu einer Einigung kommen sollte, wäre ich bereit, eine andere Aufgabe zu übernehmen. Ich hätte keine Probleme damit.

Aber Sie bleiben weiterhin Co-Vorsitzender, oder?
Ja, aber auf den Abgeordnetenstatus kann ich verzichten, wenn es darauf ankommt. Das sind keine schwierigen Unterfangen für uns.

Meinen Sie, dass die Regel nicht auf Teufel komm raus befolgt wird?
Wenn ich behaupten würde, dass sie ohne Ausnahme für alle gilt und wir uns dann doch für eine Ausnahme entscheiden, müsste ich mich revidieren. Wir sollten uns eine oder zwei Ausnahmen vorbehalten.

In den Regierungskreisen herrscht bei einigen die Meinung, dass ein prominenter Name an der Spitze der HDP wäre günstig. Andere meinen wiederum, dass es ihnen Kopfschmerzen bereiten würde. Ich beobachte diesbezüglich eine Verwirrung. Was meinen Sie?
Das ist richtig. Man hört vereinzelt Stimmen, die besagen, die HDP und bzw. eine starke Führung der Partei dem Lösungsprozess viel beitragen würden. Bei diesem Prozess, der in erster Linie unter der Ägide von Herrn Öcalan und Erdogan vollgeführt wird, bilden eine starke Partei und eine starke Führung das Fundament für eine starke Unterstützung von seiten der demokratischen Politik. Aber einige finden es beunruhigend. Es sind diejenigen, die die HDP die meiste Zeit in das eigene Kielwasser ziehen möchten. Gelingt es nicht und die HDP mit ihrer Stärke sich zur Wehr setzt, können sie ihre Szenarien nicht realisieren. Und das sind immer Phasen, in denen Angriffe auf uns angesagt sind.

Kommt es auch vor, dass der Staat sich in Ihre innere Angelegenheiten mischt?
Das kommt vor. Manchmal kommt es zu Vier-Augen-Gesprächen zwischen den Vertretern des Staates und den Funktionären aus unserem Führungskreis. So etwas hört man natürlich. Diese Treffen sollen zur Stimmungsmache und Spaltung innerhalb der Partei dienen. Sie versuchen es manchmal auch mithilfe von Medien. Absichtlich vergleichen sie mich mit meinen Mitstreitern oder versuchen, uns gegeneinander aufzubringen.

Wie im Falle von Hatip Dicle.
Ja. Es kommt auch vor, dass irgend ein Gerücht wie eine Meldung präsentiert wird. Sie sind nicht immer erfolgreich damit. Ich kann auch nicht sagen, dass sie nie Erfolg haben. Denn, eine Diskussion verursacht Energieverschwendung und hindert die Partei daran, ihrer eigentlichen Arbeit nachzugehen. Andererseits schaffen sie es auch nicht, unsere Partei umzuformen.

Ich war bei der Konferenz in den USA mit dabei. Zwischen dem, was ich dort beobachtet habe, und den Spekulationen hinterher klaffen allerdings Abgründe. Haben Sie dort tatsächlich mit einflussreichen Leuten Unterredungen gehabt, die Ihnen einiges versprochen haben?
Ehrlich gesagt, es war unser Wunsch, mit einflussreichen Leuten zu reden. Ich hätte  beispielsweise gerne dem US-Vize-Außenminister unsere Sichtweise auf Kobane und ISIS dargelegt, leider konnte so ein Gespräch nicht zustande kommen. Es gab Terminschwierigkeiten. Ich durfte auf der Konferenz wie auch bei einigen Think-tanks eine Rede halten. Ich habe die Gelegenheit gehabt, mit einigen zu reden, die Politik gestalten. Die Konferenz, die schon längst geplant gewesen war, fiel zufällig in die Zeit der Ereignisse in Kobane zusammen. Verschwörungstheorien funktionieren in der Türkei immer prächtig. Zu den Spekulationen sage ich nur so viel: 1) Unsere politische Moral würde uns nicht erlauben, unsere Landsleute im Ausland zu verraten. 2) Die Anhänger solcher Theorien müssten wissen, dass man dafür nicht in die USA zu reisen braucht. Solche banale Machenschaften kann man überall betreiben. 3) Dass sie eine gesellschaftliche Empörung mit einer transatlantischen Verschwörung verknüpften, anstatt sie zu richtig zu begreifen, zeigt im Grunde, dass sie die Frage ignorieren. Jene gesellschaftliche Empörung kann jederzeit neu ausbrechen.

Aber dann hat sich die Sichtweise der USA auf Kobane in einem Maße gewandelt, in dem die Kurden befriedet waren.
Das war auch das Ziel von Kobane-Demonstrationen. Wir wollten den Verantwortlichen weltweit vorhalten, dass sie zwar die Koalition gründeten aber ISIS nicht angreifen. Es ist uns gelungen. Zum anderen haben sie festgestellt, dass die YPG die einzige Kraft war, die gegen den ISIS kämpfte. Sie unterstützen seit drei Jahren die Freie Syrische Armee sowie die Türkei – diese konnten aber gegen Radikale nichts ausrichten. Die YPG leistete aber 35 Tage Widerstand, ohne jegliche Hilfe von außen zu erhalten. Die Koalition fühlte sich verpflichtet, sie zu unterstützen. Jener Widerstand führte letztlich dazu, dass die Türkei die Peschmerga passieren liess und Hilfe über Luft- und Landweg gewährt wurde.

Sie haben sich in Suruc zu dem Selbsmordattentat geäußert. Zuerst war behauptet worden, das das Attentatsfahrzeug sei aus der türkischen Seite gekommen und die Schüsse seien von der staatlichen Getreidebehörde (TMO) aus abgefeuert. Vom Fahrzeug war allerdings später nicht mehr die Rede.
Es muss ein Kettenfahrzeug gewesen sein.

Stimmt es, dass es von der türkischen Seite kam?
Ganz in der Nähe des Grenzübergangs Mürşitpınar patroullieren YPG-Leute (Volksverteidigungseinheiten), an sich ist der Grenzübergang komplett unter der Kontrolle von diesen. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Auto von Kobane aus fuhr, ist gleich null. Es ist einfach nicht möglich, von so vielen YPG-Leuten unbemerkt zum Tor zu gelangen. Man erzählt, dass das Fahrzeug auf einmal gegen das Tor rammte. Das Tor existiert nicht mehr. An der Stelle klafft nun eine riesige Grube. Es ist ein Eisentor gewesen, dessen Schlüssel bei den türkischen Behörden gelegen hat. Man ist sicher, dass das Auto von der türkischen Seite kam.

Und die Behauptungen, die das TMO betreffen?
Man erzählt, eine große Anzahl an Kämpfern sei ins türkische Gebiet gegangen und habe dabei ein mit Raketen beladenes Fahrzeug eingeschleust. Sie haben von TMO-Gebäude aus geschossen, als das Fahrzeug am Grenzübergang explodierte. Nach der Explosion rief Asiye Abdullah unseren Abgeordneten Ibrahim Ayhan an und erkundigte sich, ob es die türkischen Soldaten sind, die vom TMO-Gebäude aus Schüsse abfeuern, ob man die Schüsse erwidern soll oder nicht. Nachdem der Gouverneur kurze Zeit später zurückrief und sagte, dass die Schützen nicht die Soldaten sind, fingen dann die YPG-Kämpfer an, Schüsse zu erwidern.

Wie ist die aktuelle Lage dort?
Die bewaffnete Auseinandersetzung dauerte einen ganzen Tag. Der Gouverneur hat praktisch die Existenz von ISIS bestätigt, indem er sagte, dass die Schützen nicht die türkischen Soldaten sind. Später kamen Dementis. Jedenfalls mussten die ISIS-Leute gegen Abend nachgeben und abziehen. 

Wie ist die aktuelle Lage in Kobane?
Die Lage entwickelt sich zugunsten der YPG. ISIS wurde zwar zum größten Teil zum Rückzug gezwungen, aber er ist nach wie vor da. Wenn er die Provinz endgültig verlässt, wird es leichter sein, die ganze Region von ihm zu säubern. Denn Stadtkämpfe sind komplizierter.

Der Staatspräsident sagte: „Was haben wir mit Kobane zu tun?“ Sie kritisierten ihn dafür. Wie hat Ihrer Meinung nach der Fall Kobane auf die Sicht der Kurden in der Türkei auf den Lösungsprozess ausgewirkt?
Diese Worte halte ich für stigmatisierend und diskriminierend. Sie stehen im krassen Widerspruch zu seiner späteren Äußerung, wir seien alle Brüder. Die Kurden in der AKP sind ebenfalls konsterniert. Dass ein Führer, den sie jahrelang unterstützt haben, eine derlei gewissenlose und realitätsferne Politik betreibt, verursachte eine Zäsur. Der Auslöser, warum die Leute auf die Straße gingen, war eher der Staatspräsident selbst als der HDP-Aufruf. Ist der Frieden mit dieser Haltung möglich? Es ist ein anderes Thema, es wird nicht so einfach, und das weiss ich auch. Auf die Frage, ob die Kurden hinsichtlich dieser Haltung, die in den Worten „Kobane ist nicht von uns, es interessiert uns nicht“ ihren Ausdruck findet, zur Versöhnung bereit wären, habe ich im Moment auch keine Antwort. Dass wir aber einen Weg finden müssen, das steht fest.

Ihre Erklärungen und die aus Kandil sind meist kritisch. Aber Ihre Mitstreiter fahren nach Imrali und die Erklärung, die von dort aus kommt, fällt eher moderat. Finden Sie das nicht widersprüchlich?
Wir sollten diese Äußerungen nicht als Zeichen für „alles geht seinen Gang“ auslegen. Herr Öcalan ist ein starker Führer. Er verfügt über ein großes Selbstvertrauen und Interpretationsvermögen mit Tiefgang. Seine Analyse von der Region ist zutreffend. Sowohl die Organisation als auch das Volk vertraut ihm. Und das stärkt sein Selbstvertrauen. Lösungsprozesse benötigen starke Führer. Schwache Führer beugen dem gesellschaftlichen Druck nach und scheitern. Es ist für uns alle ein riesiges Glück, dass er ein starker Führer ist. Und  diese Stärke setzt er bei den Verhandlungen optimal ein. Durch seine Beharrlichkeit fühlt sich die andere Seite verantwortlich, den Lösungsprozess konsequenter anzugehen. Das bedeutet natürlich keinesfalls, dass alles wie am Schnürchen läuft. Herr Öcalans Kritik bei den Gesprächen in Imrali war im Grunde schärfer als die aus Kandil. Aber wie sie angesprochen wird, hängt zumeist von der Verantwortung eines Führers ab, die er für die Hoffnung der Gesellschaft auf den Frieden trägt. Herr Öcalan praktiziert es. Er will nicht, dass die Hoffnung auf Frieden und die Begeisterung in der Gesellschaft gedämpft werden. Andererseits sind seine Vorhaltungen wegen des Prozesses nicht minder scharf als die aus Kandil.

Seine letzte Erklärung enthält eine Selbstkritik. Meiner Meinung nach fordert er damit die Regierung heraus.
Mit Äußerungen wie, dass es ein Fehler gewesen sei, der Regierung in Bezug auf Prozess blind zu vertrauen, oder die Gesetze würden die echte Sicherheit darstellen, oder er selber habe aber einen Fehler begangen, indem er diese verkannte, ist eher eine Selbstkritik als eine Herausforderung. Und dies zeigt wiederum sein Selbstvertrauen. Wie viele Politiker sind in der Türkei überhaupt im Stande, Selbstkritik zu üben? Er hat da solche Aussagen wie: „Hätte ich in dem Punkt keinen Fehler gemacht, wäre der Lösungsprozess besser gelaufen. Hätte ich auf ein Gesetz bestanden, das den Rückzug regeln sollte, hätte der Rückzug erfolgreich vollbracht werden. So hätte der Lösungsprozess mit den neu zu erlassenen Gesetzen Fortschritte erzielt. Leider haben wir der Regierung vertraut, indem wir den Rückzug angekündigt haben, ohne ein entsprechendes Gesetz dahinter. Damit erschwerten wir den Lösungsprozess. Ohne das Gesetz sollte künftig niemand vom Fleck rühren.“ Das Gesetz bildet die Sicherheit für den Prozess. Denn Worte geben keine Sicherheit. Er war schon damals besorgt, als er den Aufruf an seine Organisation richtete. Ich weiß das genau, weil ich mit dabei war. Wir hatten mit der Situation zu tun, dass ein weiteres Festhalten an der Veröffentlichung des Gesetzes den Prozess aufs Spiel gesetzt hätte. Die Regierung erließ das Gesetz einfach nicht. Herr Öcalan hat unter Druck gestanden. Hätte es den Aufruf nicht gegeben, hätte der Lösungsprozess nicht begonnen. Ich weiß, dass ihm dieser Schritt schwer fiel. Und die Organisation hielt sich auch widerwillig daran. Der Rückzug gelang nicht. Es hätte eines Gesetzes mit einem einzigen Paragraphen bedurft. Der Rückzug wäre dann zügig vollbracht gewesen. Und nicht nur das - mit Folgegesetzen wäre der Lösungsprozess möglicherweise schon längst vollendet gewesen.

Zur Zeit fordern Sie die Veröffentlichung der Gesprächsprotokolle. Handelt es sich dabei um Protokolle von Ihren Gesprächen mit Öcalan, oder von denen zwischen ihm und der Regierung?
Es sollten zumindest die Protokolle von unseren Gesprächen mit ihm veröffentlicht werden. Ich meine dabei natürlich nicht die Privatunterredungen. Sämtliche Gespräche mit politischem Inhalt können veröffentlicht werden.

Ein Teil dessen erschien bereits in der Zeitung „Milliyet“, was ja für Furore sorgte.
Klar, wenn es unter der Rubrik „Geheimprotokolle“ läuft. Erscheinen die Dokumente systematisch und mit einer Regelmäßigkeit, wäre es deutlich, dass unsere Gespräche nicht dahin gerichtet sind, das Land zu spalten. So hätten wir auch mehr Unterstützung aus der Bevölkerung. Zudem wäre dadurch ebenso bekannt, was für ein Mensch Herr Öcalan ist und dass er keine Gefahr und keine Drohung für die Türkei darstellt.

Das ist eine langfristige Sache. Ist es realistisch, in vier oder fünf Monaten den Lösungsprozess zu einem Ende zu bringen, so wie in der Erklärung verlautet?
Herr Öcalan sagt nicht, dass das ganze Problem in vier oder fünf Monaten gelöst wird. Werden die entscheidenden Gesetze erlassen, wäre das Problem zum größten Teil aus der Welt geschaffen. Überhaupt von einem „Problem“ wäre nicht mehr die Rede. Sonst wird die Umsetzung natürlich Jahre dauern. In dem Gesetz kann aufgezeigt werden, wie die Probleme innerhalb von vier oder fünf Monaten gelöst werden können, die Umsetzung wird jedoch Jahre beanspruchen. Es geht um die Muttersprache, Staatsbürgerschaft, Rückkehr in die Dörfer, die Armut und Arbeitslosigkeit in der Region sowie ökologische Probleme. Regelt man alles innerhalb von vier oder fünf Monaten, so wären die nächsten Schritte der kurdischen Frage zu unserem Thema und nicht mehr die kurdische Frage selbst.

Meinen Sie, dass das Treffen Öcalan mit Medien, das häufig erwähnt wird, in absehbarer Zeit stattfindet?
Die Regierung hat es zwar angekündigt, aber bekanntlich liegt der Schlüssel zum Eisentor Imralis bei ihr. Wenn Sie vernünftig wären, würden sie das bald geschehen lassen. Das würde eher ihnen zugute kommen als Herrn Öcalan. Denn wenn Herr Öcalan via Presse in der Öffentlichkeit Gehör findet, würde es den Lösungsprozess beschleunigen und das würde wiederum der Regierung zugute kommen. Es ist ja nicht so, dass er Eigenpropaganda benötigt. Wenn Propaganda, dann würde er sie zugunsten des Prozesses machen. Journalisten wie Sie müssten an dem Mediengespräch teilnehmen. Es wäre unangebracht, sollten sie die ihnen nahe stehenden oder von ihnen instruierten Journalisten damit beauftragen. Ich fände es gut, wenn das Team aus solchen Journalisten bestehen, die insbesondere in der Kurdenfrage bewandert sind und sich jahrelang damit befasst haben. Es würde sonst niemanden befriedigen, weder Herrn Öcalan noch die Öffentlichkeit.

Am Anfang des Prozesses war nicht nur der Rückzug, sondern auch die Entwaffnung an der Tagesordnung. Nun wird aber bewaffnet. Wenn nicht in der Türkei, aber in Syrien und im Irak. Wie wird denn dieses Paradoxon beseitigt?
Liest man sie aufmerksam, wird man merken, dass nunmehr in den Aufrufen davon die Rede ist, dass die Waffen nicht mehr gegen die Türkei gerichtet werden sollten. Das betrifft die Aufrufe von Herr Öcalan wie auch der KCK. Das kann man in den Regierungserklärungen ebenfalls herauslesen. In so einer Zeit kann niemand von der PKK erwarten, dass sie die Waffen niederlegt. Aber dass sie sie nicht mehr gegen die Türkei richtet, erscheint eine logische und realisierbare Alternative.

Und was sagen Sie zum Thema „öffentliche Ordnung“? Früher überwog der Punkt, dass die bewaffneten Kräfte zum Rückzug bewogen werden. Von der Regierung werden jedoch zunehmend auch die Stadtzentren in den Fokus gerückt. Gilt es für alle Orte, an denen die Kurden leben, oder nur für ein paar Zentren wie Yüksekova?
Das mit der Störung der öffentlichen Ordnung ist kein großes Thema. An ein paar Orten passiert einiges, was von der Regierung nicht gutgeheißen wird. Die Regierung hat eigentlich etwas anderes im Sinn und traut sich nicht, es auszusprechen. Die politische Macht und der Einfluss der PKK wachsen zunehmend. Es kommt ja nicht vor, dass die Regierung die PKK konkret kritisiert, sie habe da und dort die öffentliche Ordnung gestört. Wovon sie sich allerdings gestört fühlt, ist das zunehmende Wachsen der Macht der PKK in der Basis. Um dem ein Ende zu bereiten, werden neue Sicherheitsgesetze geplant, damit die Demonstrationen künftig verboten werden können.

Ein letztes Mal zu Öcalan, dem Führer der kurdischen politischen Bewegung. Sie sind ein bedeutender Partner. Sie führen wichtige Diskussionen und treffen wichtige Entscheidungen. Inwiefern beeinflusst er dies alles?
Persönlich war ich schon acht Mal bei ihm. Unsere Ausschüsse besuchen ihn regelmäßig seit eineinhalb Jahren. Bisher kam von ihm nichts, was wie eine Anweisung anmuten könnte. Selbst die KCK erhielt von ihm keine Anweisungen, sondern nur Vorschläge. „Ich schlage Kandil folgendes vor“, oder „Wie wäre es, wenn sie folgendermaßen vorgehen würden?“, oder „Ich würde mich freuen, wenn Ihr das bis zum nächsten Mal unter Euch diskutiert“, sind Beispiele für die Art und Weise, wie er mit den Leuten Gespräche führt. Mit der HDP hat er sogar einen noch sensibleren Umgang. Abdullah Öcalan ist ein Führer, der es seit vierzig Jahren in seinem Kampf, sei es in der Türkei, oder im Nahen Osten, in Syrien, in Europa oder in Imrali, nicht leicht gehabt. Seit seiner Jugend zerbricht er über diese eine Frage den Kopf. Dadurch, dass er sich mit diesem einzigen Thema intensiv befasst hat, ist er nahezu zu einem philosophischen Geist mutiert. Er ist nicht mehr als ein klassischer Parteiführer zu bezeichnen – seine Funktion als dieser beinhaltet jetzt auch ideologische und philosophische Bezüge. Sein Einfluss ist beträchtlich. Seine Vorschläge kommen deshalb in der Organisation mitunter wie Anweisungen an. Dass es ihm das bewusst ist, lässt er Vorsicht walten, wenn er Vorschläge unterbreitet.

Wären Sie trotzdem angetreten, wenn Öcalan dagegen gewesen wäre?
Ehrlich gesagt, wenn die Basis von seiner Missbilligung Kenntnis genommen hätte, hätte mich ein Großteil der Kurden weder unterstützt noch gewählt.

Wären Sie trotzdem angetreten?
Nein, so ein Risiko wäre ich nicht eingegangen. In solchen Situationen verhielt er sich nie despotisch. Bezüglich der Festlegung der Kandidatur bei der Präsidentenwahl äußerte er sich nicht einmal. Er sagte nur: „So viele Leute nehmen an der Diskussion teil. Einigt man sich auf eine Person, dann sollte sie von allen unterstützt werden.“ Als meine Kandidatur feststand, wollte er, dass ich von allen unterstützt werde. Er ist ein Führer und wir vertrauen ihm. Sowohl als Person als auch als Partei haben wir ein Vertrauensverhältnis.




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